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Adorno
Beiträge: 230
Registriert: So Jun 02, 2002 8:48 am
Wohnort: Frankfurter Schule

Beitrag von Adorno »

Jedenfalls gibt es jetzt wieder eine neue sinnlose Rezension. Getreu unserem Motto "Mit Pepp und Pfiff durch die Philosophiegeschichte" habe ich mir Ludwig Wittgensteins steady-seller "Tractatus logico-philosophicus" vorgenommen. Als Gimmick sind in dem Text sieben logische Denkfehler verborgen - wer sie findet, bekommt ein Stipendium.

http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3 ... 23-3328854
sl-dingsbums-dienst

Beitrag von sl-dingsbums-dienst »

Der Tractatus - Ein Manifest des Priapismus?, 31. Oktober 2003
Rezensentin/Rezensent: Beate Backfisch
Analytische Philosophie, so zwitscherns uns die Nachtigallen mit dem Megaphon, ist `hip`, ist `cool`. Kaum ein Kneipengespräch, eine Discoanmache, wo die grossen Namen der allzeit aktuellen Megatherien - Gottlob Frege, Bertrand Russel, Ernst Carnap oder Ernst Gemeint - nicht fallen. Und so beschloss auch der junge Ludwig Wittgenstein anno 1968, in Rücksprache mit Herbert Marcuse, "ein bisschen auf analytisch zu machen", wie sich der allzeit zu Spässen aufgelegte österreicher ausdrückte oder eben halt nicht. Geschult an den exoterischen Schriften des Proklus, Porphyros und Dionysios Areopagita, gestählt an den Texten der Koprophagen - McIntyre, Leibniz, Plotin - trug er schon 1969 erste Auszüge aus seinem `Tractatus`an Adornos Grab vor, zum Ergötzen aller Anwesenden. Flugs kam Peter Suhrkamp auf ihn zu und kaufte die Rechte auf, Gretel Karplus wischte sich eine Träne von der Stirn. Seitdem ist Wittgenstein aus der Riege der `Geisenheimer Schule` (Henscheid, G. Amnestie, Averroes) und der Geschichte des Priapismus überhaupt nicht mehr wegzudenken. Der spektakuläre freudianische Einleitungssatz - "die Welt ist alles, was der Phall ist" - stimmt den lasziven Leser ein auf ein postmodernes Rondo quer durch die Welt des Obskurantismus. Kleine Anekdoten und humoristische Einlagen sowie der ein oder andere Schwank aus seinem Leben lockern die straffe Dialektik des Anenzephalisten - Pacing pur! Unvergessen seine Erinnerungen an eine Podiumsdiskussion mit Karl Popper ("Pardon, Herr Professor, aber Sie sind ein Positivist!"). Allerdings - und hier sehe ich ein Hauptproblem - gehen viele seine Thesen über in ein allgemeines gesellschaftskritisches Raisonnieren, das nach der "affirmativen Wende" der Philosophie (man denke nur an die Schriften von Niklas Buhmann oder Ulrich Wickert) auf gar keinen Fall mehr möglich ist. Trefflicher als Tom Clancy hätte es wohl keiner sagen können: "Die Indolenz der affirmativen Aspekte eines Subjekts der Philosophie sind bei Wittgenstein, trotz allem Pacing, im wesentlichen an das transzendentale Signifikat eines mentalistisch codierten Geistbegriffs rückgebunden, durchbrechen nicht die Grenzen eines bloss dem jeweils Gegebenen angeglichen, substantiell, d.h. im Sinne konkreter gesellschaftlicher Praxis aber nicht schlagkräftigen Globalkritizismus: Dialektik im Stillstand pur." Und schöner kann selbst ich das, malgré toute envie, nicht ausdrücken.
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Hoirkman Szeßhts
Beiträge: 36
Registriert: Fr Sep 20, 2002 1:33 am
Wohnort: Batzenhofen

Beitrag von Hoirkman Szeßhts »

Werte Herrschaften,
ein hübsches Spielchen, das Sie da treiben. Da möchte man nicht abseits stehen.
Wie die Vorsehung so will, liegt mir als Abfallprodukt eines großangelegten Essayprojektes - das natürlich exklusiv für das wussow Forum im Entstehen begriffen ist - eine Rezension von Theodor Fontanes Roman "Unwiederbringlich" vor, frei transkripiert aus Walter Schenkers "Am anderen Ende der Welt".
<A TARGET=_blank HREF="http://freemail.web.de/jump.htm?url=htt ... >Amazon</A> war wie immer begeistert.


Der Graf, die Prinzessin und ein Fräulein von Rosenberg, 19. November 2003
Bereits die einleitenden Sätze ziehen den Leser auf eine rätselhafte Weise hinein, dass nämlich "eine Meile südlich von Glücksburg, auf einer dicht an die See herantretenden Düne" das von der gräflich Holkschen Familie bewohnte Schloss Holkenkäs lag, und dass dies eine Sehenswürdigkeit gewesen sei "für die vereinzelten Fremden, die von Zeit zu Zeit in diese wenigstens damals noch vom Weltverkehr abgelegene Gegend kamen".
Wie ganz von selbst stellt man sich vor, dass das Schloss weiß ist. Man sieht die Stegbrücke vor sich, die auch als Anlegestelle für die zwischen Glücksburg und Kopenhagen fahrenden Dampfer dienen sollte, und hinter dem Wasser sieht man das weiße Schloss, blendend.
Bald hat man sich fiebrig gelesen.
Dabei dreht es sich um Banalitäten.
Dabei hatte man erst den Titel für kitschig befunden. So pathetisch! So platt und direkt!
Trotzdem liest man es ohne Unterbrechung zu Ende. Freilich kann man am Schluss der Lektüre kaum angeben, was denn eigentlich passiert ist, außer dass der Graf mit dem Dampfschiff nach Kopenhagen gefahren war an den Hof und dann wieder zurückkehrte. Und in der Tat passiert auf den meisten Seiten nichts, das meiste ist nur Gerede, familiäre Dinge ohne Belang auf Schloss Handkäs, Konversation oder Stadt- und Hofklatsch bei Hofe.
Die Gegend, wo alles spielt, kann einem dadurch, dass man sich etwa in Kiel aufhält, naturgemäß sehr viel näher rücken, als wenn man den Roman beispielsweise in Zürich liest. Das spielt sicher auch eine Rolle. Denn Glücksburg liegt von Kiel nicht weit entfernt. Aber fremd bleibt einem die Fontanesche Welt zur Genüge. Es ist weniger die Distanz, die in der Vergangenheit liegt. Nein. Sie liegt im Wesen der Konversation zu Hofe, wo viele Worte nichts besagen konnten und ein Seitenblick alles, wo man nicht sagte, was man meinte, und wie dann aus den Worten doch ernst wird.
Dabei kann man sich im einzelnen gar nicht mehr entsinnen, um was sich diese Konversation drehte. Und doch schreckt man von der Lektüre hoch, als wäre man selbst hineinverwickelt in das Geschehen. Aber nicht einmal dieses Geschehen kann man notdürftig angeben. Gut, es gibt den Grafen und seine Familie, es gibt die Prinzessin, und dann gibt es ein Fräulein von Rosenberg. Vielleicht liegt das Ungewisse darin begründet, dass ungewiss bleibt, was die Tiefe ist und was die Oberfläche, und welches denn die Tiefe ist oder die Oberfläche: die Welt der Dinge oder die Welt der Wörter. Und in diese Ungewissheit fallen einem wieder die Verse ein: "Die Ruh' ist wohl das Beste/Von allem Glück der Welt."
Die Prinzessin bestellt Graf Holk nach Kopenhagen. Er nimmt das Dampfschiff »König Christian«, seine Frau und die Kinder winken. Bei der Einfahrt in Kopenhagen "funkeln die Sterne in fast schon winterlicher Klarheit". Konversation. Es gibt nun also auch dieses Fräulein von Rosenberg, es gibt ferner die unverbindlichen Wortspiele hin und her. Es gibt den Dachstuhlbrand sodann, wo der Graf das Fräulein aus dem Zimmer rettet als Ritter seiner Dame. Das ist eigentlich alles. Als das Fräulein gefragt wird, wie es gewesen sei, entgegnet sie lediglich: erst war es etwas zu heiß, danach etwas zu kalt. Man hat den Eindruck, dass es ein Techtelmechtel ist, mehr nicht.
Am Ende ist wieder das gleiche Schloss weiß und blendend über dem Wasser. Alles sieht genau gleich aus wie am Anfang. Aber alles ist anders. Die Gräfin ist ins Wasser gegangen. Kurz zuvor hat sie noch Toilettenangelegenheiten besprochen.
Es ist nichts gewesen, und dann ist alles anders.
Glückliche Tage sind vorbei, und dann ist die Ruhe eingekehrt.
Sieht das Schloss gleich aus oder anders, oder ist alles Einbildung? Die Gräfin: stirbt sie aus Gram, oder stirbt sie aus Versehen?
Und was ist denn eigentlich gewesen, was unwiederbringlich ist? War es wirklich das Glück, wo doch die Ruhe wohl das beste ist?
Eben!
Lamentier der Herr nicht so schrecklich in der Finsternis, und vexier Er nicht die Leute, wenn Ihm sonst nichts fehlt, als dass Er zuviel ins Gläschen gekuckt.
Adorno
Beiträge: 230
Registriert: So Jun 02, 2002 8:48 am
Wohnort: Frankfurter Schule

Beitrag von Adorno »

Herr Szeßhts! Die angenehme überraschung! Zuletzt haben wir uns, wenn ich mich entsinne, im WOMAN-Forum amüsiert, nicht wahr? Ich hoffe, Sie bleiben uns weiterhin erhalten.

A.

P.S.: Gratulation zu dieser vorzüglichen Rezension, sie haben mir den Tag gerettet.
Dr. Ruth Frau

Beitrag von Dr. Ruth Frau »

In diesem Strang passiert ja gar nichts mehr! Ist Lesen nicht mehr "hip", nicht mehr "in"? Offensichtlich nicht. Ich habe mir deshalb erlaubt, ausnahmsweise mal ein Hörbuch zu rezensieren.

Viel Vergnügen wünscht Ihnen wie immer


Ihre
Dr. Ruth Frau
Fellow am Hamburg Institute for Adorno Forschung
Dr. Ruth Frau

Beitrag von Dr. Ruth Frau »

Hups, der Link:

http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3 ... 27-8053309

Mal wieder typisch (Ruth) Frau.
Gast

SL-Dokumentationsdienst

Beitrag von Gast »

Hottehü - und das war "es" dann?, 28. November 2003
Rezensentin/Rezensent: Anselm Feineherr
Endllich, endlich: Doris Schröder-Kropfs lange unvertont gebliebenes Buch "Der Kanzler treibts im Swimming-Pool" ist vertont. Sogar von der Kanzlergattin (Doris Schröder-Köpftsie) selbst. Viereinhalb Stunden Longiergeräusche, Peitschengeknalle, Schnauben, Wiehern, die zarten Geräusche von grazilen Stutenhufen im Spreu... das Brüllen des Deckhengstes, die beruhigenden Worte des Pferdeflüsteres... man glaubt zu träumen... schwebt auf einer Insel, versinkt ganz und gar in der Welt der Hippophilie... wunderschön!
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FinnCrisp
Beiträge: 1026
Registriert: Di Jun 03, 2003 12:32 pm

Beitrag von FinnCrisp »

Carmen Thomas - "Das Anagramm-Geheimnis"
http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3 ... 76-8742131
Hoffentlich wird meine Kritik (die erste meines Lebens!) demnaechst veroeffentlicht. Falls nicht, dann hier bitte:
Anagramme sind etwas Spannendes und bereichern den Schatz der Sprache ungemein. Ein entsprechendes Buch war laengst ueberfaellig. Traurig nur, dass der Versuch der Autorin sich dieses Themas anzunehmen klaeglich scheiterte.
Carmen Thomas ... bei diesem Namen macht es sicher bei einigen "Klick"; genau - das ist doch die Autorin, die vor einigen Jahren in einer Publikation das Trinken von Eigenurin propagierte! Eines ihrer juengeren Machwerke heisst "Beruehrungsaengste? Vom Umgang mit der Leiche". Muss ich noch mehr sagen? Die Frau ist offensichtlich nicht recht bei Trost. In dem "Anagramm-Geheimnis" will sie durch spielerische Aufbereitung der Thematik die Leserschaft kreativ fordern, was ja an sich loeblich ist. Leider tritt die Interaktivitaet des wirren Schmoekers allzusehr in den Vordergrund. Kulturgeschichtliche Anmerkungen oder Literaturanleihen sucht man vergeblich. Immerfort soll man hier ueber seinen Namen sinnieren, dort in seinen intimsten Gefuehlen kramen, trallala! Welche Zielgruppe hatte Thomas beim Verfassen des Buches vor Augen? Nervengeplagte, esoterisch angehauchte Frauen mit Faible fuer Latzhosen und Tigerenten-Brillenetuis? Man weiss es nicht. Das Grausamste an dem Werk sind allerdings die Wortkonstruktionen nach dem Muster "LeserInnen" ... Kein Satz vergeht, in dem nicht von "WissenschaftlerInnen", "AutorInnen", ja sogar von "den alten RoemerInnen" die Rede ist. Die Floskel "man/frau" darf natuerlich auch nicht fehlen. Dieser penetrante, pseudo-emanzipatorische Verstoss gegen die Duden-Regeln fuehrte schliesslich dazu, dass ich den Fetzen wutentbrannt in die Ecke pfefferte, bzw. behutsam beiseite legte. Leuten, die wirklich an dem Thema interessiert sind, seien die Werke von z.B. Michael Lentz empfohlen. Alle anderen koennen sich gerne bei einer schoenen Tasse warmen Natursektes zuruecklehnen und Thomas' Ausfuehrungen geniessen. [1/5 Sternen]
I drove downtown, scanning the alleys until I saw a rail-thin Mexican kid standing by a dumpster wearing a St. Louis Rams jacket. The kid was wearing the jacket, not the dumpster.
Adorno
Beiträge: 230
Registriert: So Jun 02, 2002 8:48 am
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Beitrag von Adorno »

Lieber FinnCrisp, ich heisse Sie sehr herzlich in unserem erlauchten Kreise der Jünger Kalliopes willkommen und gratuliere Ihnen natürlich für Ihre vorzügliche Rezension.

A l'occasion möchte ich auch die anderen Mitglieder unseres cénacle anspitzen, wieder tüchtig mitzumischen im kritischen Geschäft; am Ende wird uns sonst gar noch der Strang geschlossen!
Tischlampe
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Öde Orte 3

Beitrag von Tischlampe »

Nun, bis heute konnte ich ja nicht recht glauben, dass man bei amazon Rezensionen unterkriegt, ohne das betreffende Buch gelesen zu haben bzw. ohne dass irgend jemand Zuständiger das auch nur auf einen Funken Relevanz oder Kompetenz überprüft - mein guter Freund Lamberto Di Tavola bewies es mir mit seinem Loblied auf den "Reiseführer" "Öde Orte 3" eindrucksvoll, er kann nämlich nachweislich gar nicht richtig Deutsch lesen, und für diesen Text hab ich ihm sozusagen den Finger auf der Tastatur führen müssen - übrigens sollte man sich etwas mit der Thematik dieses Buches vertraut machen, um das kapitale Scheitern von Lamberto gustieren zu können:
Ich finde diesen Reiseführer sehr gut weil auch ich in einem Ort aus dem Buch (Darmstadt)lebe. Ich bin sehr vertraut mit diesem Ort und finde die Beschreibung sehr gut und bildlich getroffen. Ein schönes und gerechtes Kompliment für die Bürger meiner Stadt. Auch die Schilderungen über die anderen Städte machen mir Appetit, das unbekannte Deutschland zu bereisen, ich bin jetzt Rentner und habe Zeit. Orte wie „Sachsenwald" (DDR), „Kerpen" (das Dorf von Ferrari-Star Schumacher), „Ahlen" (bei Stuttgart) sucht man in anderen Reiseführer leider um sonst, obwohl es dort bestimmt genauso viel zu entdecken gibt als zum Beispiel in Tourist-Zentren in München, Rüsselsheim, Wolfsburg und die Menschen auf dem Dorf wie auch in Italien sehr viel netter sein können. Der Autor schreibt sehr lebendig darüber.
Mir gefällt auch die einfache leicht verständliche Sprache, mit der man ohne viel Wörterbücher zu recht kommt. Der Titel ist nicht gut erfunden, aber das macht bestimmt den von mir oft nicht verstandenen deutschen typischen Humor aus.
Was in dem buch fehlt, sind Straßenkarte, Hotelverzeichnis und vielleicht ein Kalender mit besonderen Ereignissen für diese Orte, man kann dies aber auch mit Internet herausfinden Deswegen gebe ich nur 4 von 5 Punkten.
Aber Sicher werde ich mir die anderen Bände diesen Führers auch noch besorgen.
(Entschuldigung für mein Deutsch, ich bin Italiener aber lebe schon seit 30 Jahren in Deutschland).
Schade, für Italien gibts kein amazon

Tischlampe
"Das närrische Treiben überall muss doch einmal ein Ende haben - und zwar ganz radikal."
-Friedrich Schorlemmer
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Lukko Rauma
Beiträge: 46
Registriert: Di Sep 09, 2003 2:22 pm
Wohnort: Klub Klüverbaum

Beitrag von Lukko Rauma »

Unfaßbar! Nina Ruge hat einen Drogenroman geschrieben und die Frechheit, ihn als Kinderbuch daher kommen zu lassen. Ist denn gar nichts mehr heilig? Und könnte wenigstens einmal einer an die Kinder denken?
Aber den Haschischgitfrauchern und Stromgitarrenspielern ist das natürlich wieder ganz gleichgültig, oder schlimmer: Die finden "<A TARGET=_blank HREF="http://freemail.web.de/jump.htm?url=htt ... 8437">Lucy im Zaubergarten</A>" auch noch toll!
Pfui!
Hein Silberbauer hat geschrieben: Alles wird gut, 8. Dezember 2003
Rezensentin/Rezensent: Hein Silberbauer aus Sankt Ort

Nun hat also auch Mrs. »Leute-heute«, Nina Ruge, einen herbalistischen Rauschroman zu Papier gebracht und sich damit zu solchen Größen wie ETA Hoffmann und Arthur Rimbaud gesellt. Spätestens seit Walter Benjamin (»Über Haschisch« 1927-1934) gehört es zum guten Ton unter Intellektuellen, Drogenerfahrungen zu publizieren. Frau Ruge - wohl um ihr Sauberfrau-Image besorgt - wagt leider nicht die Autobiographie, sondern metaphiert ihre Erlebnisse in eine an Lewis Carroll angelehnte wunderlandartige Umgebung.

Die Titelheldin Lucy (vgl. Beatles, The, Lucy in the Sky with Diamonds; i.e. LSD) zieht mit ihren Eltern und ihrer Schwester Rebecca aufs Land. Sie beginnt den Garten zu erforschen, zusammen mit dem Hasen Hasi (vgl. Carroll, Lewis, Alice's Adventures in Wonderland, erstes Kapitel; der Weiße Hase weist Alice den weg ins Wunderland; vgl. auch: Jefferson Airplane, White Rabbit). Die Pflanzen fangen an, mit Lucy zu sprechen: Im Erdinnern planen düstere Mächte, den Menschen alle Lebensfreude zu entziehen. Deren weltlicher Anführer ist Pater Hieronymus und der ist niemand anderes als der blinde Bibliothekar Jorge von Burgos, der im »Namen der Rose« der Menschheit schon das Lachen über die Komödie nehmen wollte und es diesmal auf die alberne Wirkung des Cannabis abgesehen hat. Schon bald liegt der Nachbar, ein ständig bekiffter Hortikulturist, mit schweren Vergiftungen im Bett. In einem Wettlauf mit der Zeit sammeln Lucy, die Pflanzen und die ganze Familie ihre Kräfte, um den Kampf gegen den undurchsichtigen Abt und seine Helfer aufzunehmen. Ein Drogentrip zwischen Himmel und Hölle beginnt. Nach zwei Beuteln Gras, 75 Kügelchen Meskalin, fünf Löschblattbögen extrastarkem Acid, einem Salzstreuer halbvoll mit Kokain und einem ganzen Spektrum vielfarbiger Uppers, Downers, Heuler, Lacher, zehn Litern Tequila, einer Flasche Rum, einer Kiste Bier, einem halben Liter Äther und zwei Dutzend Poppers (vgl. Thompson, Hunter S., Fear and Loathing in Las Vegas) kommt es zum finalen Showdown. Wie der ausgeht, wird noch nicht verraten, aber Drogen spielen dabei eine wichtige Rolle, so viel sei gesagt!

Abgerundet wird der Spaß durch die Anhänge am Ende des Buches, in denen man einiges über Merkmale und Wirkungen der im Abenteuer erwähnten Pflanzen und Substanzen erfahren kann. Eine Anleitung zum Selbstanbau gibt's natürlich auch.
Danke, Frau Ruge & smoke on!
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lenin
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Beitrag von lenin »

Sommer, Ron (2000): Das Telefonbuch für Frankfurt am Main, Offenbach am Main – Modernes Gedicht in 1216 Versen. Frankfurt: Telekom

Und wieder einmal hat Sommer keine Ansprüche an Mensch und Maschine und am wenigsten an sich selbst gescheut, um dem beeindruckten Leser eine lyrische Aufarbeitung des bloß vordergründig „urbanen“ Dschungels zuzumuten, die allein durch die schiere Unermesslichkeit des Einzufangenden schwärende Wunden aufwirft und seelische Narben hinterlassen wird, angesichts derer das Ausmisten des Augiasstalles gleichsam wie ein Frühstück mit Tiffany erscheinen mag. In Form und Duktus gemahnt das Werk an den ‚Chor der Zahlen’ aus Philipp Glass’ Erfolgsoper ‚Einstein on the Beach’, obschon Ausmaß und analytische Strenge, bei gleichzeitigem Erhalt radikal durchkomponierter Kontingenz, hier eine nachgerade astronomische Größe des Entwurfs verraten, wie sie in ihrer emotionalen wie ästhetischen Unzumutbarkeit, und – sagen wir es ruhig: Großkotzigkeit, wohl heutzutage nur noch von Sommer überhaupt vorstellbar zu sein scheinen.
Gleichwohl liegen auch in diesem Fall die wahren Perlen im Detail. Schon die seicht transzendente Entrücktheit der ersten Bettszene („AERIS – Impulsmöbel GmbH&Co. KG 01802/223522“, natürlich bloß scheinbar zufällig flankiert von „ABEC Wälzlager [sic!] GmbH 01805/229922“) lässt in subtil verzerrten Jamben einen phonetischen Glanz leise keimen, welcher den Leser à la longue in lyrische Untiefen zieht, aus denen er/sie sich kaum mehr befreien kann. Und möchte!
Doch wie gewohnt wird man von Sommer zu gegebener Zeit immer wieder unsanft solcher Träumerei entrissen, wenn er, wie in Vers 302, plötzlich, plakativ und Tacheles dichtend, nach langen und schier endlos geziemenden Namen- und Zahlenreihen, in einer knappen Wendung Geschlechtsakt und Suizid – zwei Ur-Topoi der Poesie - in unvergleichlicher Weise ihrer lyrischen Fusion zuführt („Ficker, Eberhard, Gebeschusstr. 56 319187“)
Stellenweise mit verborgenem Lächeln harmlos verspielt, flirtend mit Wiener Kaffeehauskultur, wie in Vers 62/63 („Angiologie“, „Gastroenterologie“, „Hämatologie u. Internistische Onkologie“), konfrontiert uns der Autor an anderer Stelle mit barock-sperriger Konsonalakrobatik („Puvaneswary, Tharmakulasinham, Gründenseestr. 33 40800935“). Die durchaus vorhandene klassenkämpferische Sprengkraft des Werks, welche im Dicht an Dicht von kleinbürgerlich-goldenem Boden des Handwerks („Schmidt, Karl, Schlossermeister“) und anmaßend aufdringlichem Titelakkumulat („Prof. Dr. Dr. med. Schmidt“) der Rechtanwälte und Chirurgen sich andeutet, löst der Autor jedoch gegen Ende allzu oft in einer volkstümlichen Pastorale auf („Vom Fass, Gabriela, Töngesgasse 38, 91395622“ [Vers 1007]), so dass das ursprüngliche Potenzial des Mammutepos beinahe einer gewissen Beliebigkeit Platz zu machen droht. Dessen ungeachtet.... usw.usf.


Wem das gefällt, der kann an dieser Stelle gerne mit Hilfe der knapp 600 000 zur Verfügung stehenden Einträge weitermachen. Mir selbst ist unterwegs die Luft ausgegangen; irgendwie ist der Basiswitz eben doch zu billig.
Äh, ja hm... trotzdem gep(r)ostet!

Lenin
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I don't use poetry, art or music to get into girls' pants,
I use it to get into their heads.
Adorno
Beiträge: 230
Registriert: So Jun 02, 2002 8:48 am
Wohnort: Frankfurter Schule

Beitrag von Adorno »

Nachdem ich jetzt mehrmals mit dem Versuch gescheitert bin, besonders obszöne und sexuell explizite Rezensionen von grossen Werken der Literatur- und Philosophiegeschichte bei amazon.de einzustellen, komme ich immer mehr zu dem Schluss, dass dortselbst zwar nicht gegengelesen, mithin aber ein rudimentärer Wortfilter eingesetzt wird, der die schlimmsten Schlimmigkeiten zu tilgen bestrebt ist.

Vielleicht gibt uns aber diese vorläufige Beschränkung mithin Material zu einem neuen lustigen Wettbewerb. Thema: Bringen Sie die schweinischste Rezension, die überhaupt vorstellbar ist, bei amazon unter, und umgehen Sie die Zensur, indem sie möglichst geschickte Synonyme für die interdicta servieren ("Lustquelle", "Liebespfeil", usf.). Wenn Sie wollen, können Sie's aber auch lassen, ist mir ja wurscht.
Dr. Ruth Frau

Beitrag von Dr. Ruth Frau »

Amazon scheint in letzter Zeit tatsächlich immer weniger Rezensionen zu akzeptieren. Schade! Vorsorglich deponiere ich meine letzte Rezension erst einmal hier - wenn sie demnächst bei Amazon unter dem rubrum "Phänomenologie des Geistes" erscheint und Sie das zufällig bemerken: zögern Sie nicht, Ihre Mitforumisten darauf hinzuweisen!

Hegel: Phänomenologie des Geistes

Wichtig, aber uninteressant
Rezensentin/Rezensent: Amoena Feinbein aus Schierlingsbecherstein
Tja, Hegel. was kann man da noch sagen. Die einen finden ihn gut, die anderen "so là là". Trotz aller Sympathien mit den Gutfindern bin ich heute eher geneigt, mich auf die Seite der Solàlàisten zu schlagen. Aber das ist nicht nur so ein obskures irrationales Bauchgefühl, für das wir Frauen inzwischen eine gewisse traurige Berühmtheit erlangt haben! Im Gegensatz zu vielen meiner Geschlechtsgenossinnen kann ich meine Meinung nämlich auch sachlich, also mit Worten und gut abgewogenen Argumenten begründen! Ich finde einfach, wir sollten endlich Schluss machen mit Hegel. Ihn einfach vergessen. Hopss und ex, weg und schwupp. Das ist meine Meinung, und die Begründung folgt auf dem Fuss. Wie der Volksmund sagt: "nur Buch macht kluch", aber in diesem (i. e. Hegels) Fall muss man dem Volksmund nicht zustimmen, sondern rigoros widersprechen! Hegels Buch macht nicht kluch, es ist, um einmal ein ganz dummes Wortspiel zu machen, eher ein Fluch. Wie viele völlig überflüssige Hegelseminare an unseren Universitäten! Was man da - gerade auch in Zeiten knapper Kassen - an Steuern sparen könnte. Und warum? Einfach, weil Hegel ein furchtbar schwieriges Buch geschrieben hat, das kein Mensch auf anhieb versteht. Das hat etwas von Selbstermächtigung - unsere "feinen" Herren Philosophen schreiben schwierige Bücher, um sie dann auf Staatskosten jahrzehntelang deuten zu können. Muss dass sein? Anscheinend. Aber noch können wir uns wehren. Bürger, auf die Barrikaden!
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General Amnestie
Abschnittsbevollmächtigter
Beiträge: 373
Registriert: Sa Okt 19, 2002 6:43 pm
Wohnort: Salisbury, Rhodesien

Beitrag von General Amnestie »

Warner Music Group represents everything that's wrong with humanity
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