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MMC
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Beitrag von MMC »

Warum dann nicht auch Frankfurt - das New York Hessens?

Wiedemauchsei, das uebliche Lob finden Sie in meiner Signatur.
Weltalltag-Man
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Beitrag von Weltalltag-Man »

Was im Endeffekt geschah

Uschi und ihr Uwe kommen zurück von einem feucht-fröhlichen Gelage in der Stammkneipe. Gerade zeigt Uschi ihrem Uwe im trauten Heim die Fotos, die sie mit dem Handy auf der Frauentoilette geschossen hatte.

Bild

Kuck mal, Schatz, das LCD-Dis-
play zeigt wie P. uriniert.
Da ist der Ärger mit der P.
im Endeffekt vorprogrammiert!

Aber Schatzi, du bist dämlich! LCD inhaltet nämlich
schon das Display, also laß es. Auch der "Endeffekt" ist krasses
Neusprech: das ist alles doppelt gegen die Vernunft gemoppelt.
Was in deinem Kopf passiert, hat man Dir fies "aufoktroyiert".
Kontrolliere daher immer äußerst kritisch deine Worte,
denn sonst hab ich - ich mein's ernsthaft - bald 'ne andre süße Torte!

Wie soll ich's aber konstatieren, mein' ich den Schlußeffekt von Vieren?
Und doppelt etwas zu benennen, das scheint in Zeiten kurzer Spännen
(von Auf-HUCH!, äh Merksamkeit), okay für die Verständlichkeit.

Nein und nein und nochmals nein, Redundantes schlag ich klein!
Wie soll sich denn das Volk aufklären, wenn sich diese Seuchen mehren?
Wenn man vor Sprachdreck nichts mehr sieht,
wenn Jeder Unsinn repetiert!
Das wär doch, wär doch - Aargh! Ich glaub
mein junges Herz, das rebelliert!

Ich merk schon, Schatz, das wird noch was:
zwar scheißt du auf die Fitness-Tips
von Männers Health, doch dafür has'
Du'n Schlag von wüsten Affix-Trips!
Kriegst den Infarkt nicht vom Banalen,
sondern von heiligeren Qualen!
Mach dich locker, mann, dich hat's...

Jetzt scheiß mal nicht so klug, mein Schatz!
Denn merk's Dir, jedes Wort, das ist
ein ganz fataler Virus,
der Mensch, Tier, Welt - der alles schluckt
und macht uns bald den Garaus.
Ach, sorry jetzt, mein Herz, das ist ja immer noch am rasen,
ich glaub, es wär' das beste wenn...

"Du meinst, ich sollte..."

"Blasen!"


"Was willst denn du damit sagen? Willst du diesen Doppel-Moppel-Schwachsinn stützen?" fragt mich jetzt Mandy aus der letzten Kolumne.

"Nö, ich wollt's eher mal thematisieren ohne jetzt in die eine oder andere Richtung...Sprache ist ein so politisches, ja universelles Instrument der Gedankenregulierung, daß...es ließe sich viel schwerer blubbern ohne sie.", blubbere ich.

"Läßt Du denn alles einfach so in deinen Kopf rein und raus?" bohrt Mandy nach.

Puh, da hat sie mich aber erwischt. "Gesichtskontrolle mach ich bei Wörtern selten. Bei Endeffekt war ich mir ne Zeit lang nicht sicher, ob ich das aus meinem Kopf löschen soll, aber jetzt benutz ich es ohne schlechtes Gewissen. Ich bin mit den Begriffen Sound Effect und Special Effect groß geworden, deshalb ist das Wort Effekt für mich nicht etwas am Ende, sondern ein Ereignis, der Endeffekt ist am Ende einer Ereigniskette."

Und auf dieses Eingeständnis haben sie längst gewartet, die Kolumnistisch-Sunkistischen Rebellen und kommen hinterrücks aus dem Dickicht gestürmt, hauen mir johlend eins über mit dem gerupften Gummihuhn. Während sie Mandy und mir eine Binde in den Rücken pressen, verbinden sie uns die Augen mit einer Kalashnikov. "Ist das das Ende?" fragt Mandy. Ich schiele an der Kalashnikov vorbei um die nächste Zeile entziffern zu können. "Es sieht schlecht aus."

ENDE

Fotoquelle: Vodafone Werbung
Rebellensequenz inspiriert von: Woody Allens "Bananas"
Weltalltag-Man eingekleidet von: Bruno Banani
Mandy aufgetakelt von: Bananarama und Bananen-Likör
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Prof. Adorno
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Beitrag von Prof. Adorno »

Phantastisch.
Ich bin gut informiert. Ich weiß viel. Ich habe viel Material.
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Dr. Dralle
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Beitrag von Dr. Dralle »

in dieser abteilung wird wirklich großes geleistet!
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lenin
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Hier is die Kolumme!

Beitrag von lenin »

Punk, Prunk, Hippe und Hoppe
Lenin verehrt die deutsche Sprache


„.. und Doses Bad war echt die Mutter aller Badewannenränder.“
Glücklich sollte sich schätzen, wer einige Menschen aus dem Punkmilieu zu seinem Bekanntenkreis zählen kann. „Punker“ (Bela B.) eben, bzw. heutzutage, dem Alter geschuldet, meistens Ex-Punker.
Denn abgesehen von der schönen Umschreibung der in Details verbesserungsfähigen Hygiene-Performance irgendeines Bagaluten-WG-Klos (ein Typ, zwei Tussis, vier Schäferhunde und im Durchschnitt acht „befreundete“ Verwahrloste, die eine besondere Art Gewohnheits-Recht geltend machen), die der eingangs zitierte Satz enthält, glänzt er natürlich vor allem durch den archetypischen Spitznamen des damaligen Hauptmieters. Während in bürgerlichen Kreisen behütet aufgewachsene Jugendliche sich für gewöhnlich mit Normalo-Rufnamen wie Tommy oder Ulli begnügen müssen –gern auch der Nachname, insbesondere, wenn dieser auf –er endet (de Berger, die Seiler, de Pelzer etc.) – so heißen Punker grundsätzlich Dose, Racer, Sputnik, Gülli oder artverwandtes. Wenn sie in Bands spielen (die meisten spielen nicht wirklich in einer ernst zu nehmenden Band, aber alle haben große Erfahrung im In-Proberäumen-Abhängen), so nennen sie die Kapelle „10000 Kollegen“ oder „Schweine im Melkraum“ und sich selbst „Fred Zuspät“ oder „Andi Querlatte“. Einer nannte sich gar „Farin Urlaub“ und schaffte es trotzdem. Zum elder-stateman-of-German-Popmusik, zu dem er sich gerade mausert, mag sein jugendlicher Quatschname aber doch nicht mehr so recht passen. Man stelle sich vor, David Bowie, hätte sich damals aus einer pubertären Laune heraus oder ob eines humoristischen Winkelzugs des Schicksals „Bobby Blonker“ oder gar „Alwin Slottery“ genannt – dahin die Kunst-Ikonen-Aura, die ihn umströmt; dahin Modelfrau und Charisma. Stattdessen: pension scheme, can deposit und hearts four.

Irgendwie liebenswert also, die ganze Blase. Und wenn die Schnorrerpunks auf der Fußgängerzone auch nicht weniger nerven, als alle anderen Menschen, die einen unaufgefordert ansprechen, so muss man doch zusammenfassend festhalten: The kids are alright.
Weniger alright, aber letztendlich eben auch amüsant, sind die heute stärker verbreiteten Möchtegern-Ghetto-Hip-Hopper. Auf Labels wie Aggro Berlin dürfen, wie inzwischen sogar schon Spiegel-Leser wissen, zarte Seelen namens „Kool Savas“ oder „Sido“ (mit Totenkopfmaske) poetische Perlen à la „Reden ist nicht mein Ding, mein Ding ist lieber tief in dir drin“ zum besten geben, und sich dafür noch mit Pontifikalien wie credibility und realness schmücken. Da wird niveaulos gebattelt und gehatet, was das Zeug hält, und die sogenannten Heranwachsenden fahren natürlich darauf ab. Der eine Teil des Feuilletons ist entsetzt, der andere sieht eine neue Art Klassenkampfrhetorik im Schwange, und keiner merkt, dass das alles lediglich furchtbar belanglos ist. Schließlich huldigten auch wir mit 13 den Straßenjungs für Zeilen wie
„Wir machen jetzt die Lust los,
und bumsen uns bewusstlos“
und haben uns trotzdem zu Vorzeige-Intellektuellen mit hohem Anti-PISA-Faktor und fragloser Integrität gemausert. Und manchmal ist es halt einfach lustig:
„Ich fick alles, was noch lebt.
Yeah, Nigga, was geht?“ (Kool Savas)
Silbermond hätten nicht treffender reimen können, und inhaltlich? Sagen wir mal so: Auch meinem Jugendfreund Kettner wird noch heute auf guthessisch nachgesagt, er ficke alles
„was die Kniescheib vorne hadd“.

A propos Kettner: Kettner meint auch, ich solle nicht immer so lange Sätze schreiben, und überhaupt hätte er die letzten drei Kolumnen nicht mehr gelesen, zu viel Text, und ob ich demnächst nicht mal für normale Leute wie ihn, den Inhalt in so Tocotronic-mäßigen, einfachen Slogans zusammenfassen könnte wie
„Ich verachte euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“.
Meist bitte ich ihn dann, erstmal noch einen Apfelwein zu öffnen, und dann fängt er schon selber an zu erzählen, et puis wird’s auch flugs recht spaßig.
Aber gut, Heranwachsende: für euch und die „academy“ (But Alive) freestyle ich jetzt auch mal ein paar flowe Hate-Rhymes:
„Ich hab‘ ne reale MP, die durchsiebt dich stakkado,
denn du hast ne Dreckstöle und stehsd auf Ladde Maggjado.
Du Nordic-Nigga-Bitch kriegst deinen Stock up your ass!
Ich wander auf deim Grab, denn Aggro-Lenin gehd krass.
Gehd krass auf Werberspaggen un Kinderwagen-Müddä
Für sie bringt er’n Kalaschnikoffer voller Dynamit her.
Motorrädä und Audos, brauch‘ ich wie Flöh un Modde.
Ich diss und töhde lautlos mit Styles und Hexa Lodde.
Hier gibbs heut keine Gnahde und hier gibbs nix für umme
Denn hier is MC Lenin un hier is die Kolumme!“
usw.usf.
bzw. Tocotronoc-mäßig für Kettner und den Verleger (der liest die Kolumnen vermutlich auch nicht, da er zu sehr in das Lesen von Verkaufsstatistiken eingespannt ist):

Ich verehre die deutsche Sprache, insbesondere die der Baubranche, zutiefst.
Ich meine das, die Baubranche erstmal beiseite gelassen, wirklich ernst. Die deutsche Sprache verfügt über so wunderschöne Vokabeln. Wissen sie was, eine Hippe ist? Oder eine Husse? Haben sie schon mal im Kreuzworträtsel die Frage nach dem Söller wissend mit Altan beantwortet? Wohl nennen sie eine Karaffe ihr eigen, aber auch eine Agraffe? Vielleicht haben sie sogar schon mal eine Biertischgarnitur verhusst, ohne sich dessen gewahr zu sein. Ach, sie hussten und wussten? Fürbass! Haben sie schon mal jemandem geziehen? Einen Barten gebraten? Ihre Jause mit Allermannsharnisch abgeschmeckt? Womöglich liegen sie gar schon auf dem Drell und harren dem Hintritt?
Natürlich könnte man jetzt noch seitenlang frei weiter assoziieren. Sprache ist einfach ein unerschöpflicher Quell der Freude. Grenzen wir den Horizont also ein wenig ein:
Der Söller alias Altan stammt aus der Architekturecke, dem wahren Heimathafen urdeutscher Poesie. Und in diesem lassen sie uns für heute vor Anker gehen.
In Kostenvoranschlägen von Hausbaufirmen kann man z.B. folgendes lesen:
„Anhydritestrich, Faschenputz abgesetzt.“
„Gesimskasten umlaufend mit Schattennut verkleidet.“
„Dacheindeckung aus anthrazit engobierten Flachdachpfannen, Unterspannbahn, verzinkter Entwässerung und Konterlattung.“
„Fliesenspiegel in Dünnbett im Fugenschnitt verlegen.“
Nicht, dass ich unter die Häuslebauer gegangen wäre. Ich bin nur ein Freund der Künste, auch der Literatur, und wenn das soeben zitierte nicht zutiefst lyrisch ist, dann bin ich der Kaiser von China.
Ein deutsches Architektur-Lexikon ist ein zu Unrecht völlig unterschätztes aural-ästhetisches Kleinod, an dem sich Der Ring des Nibelungen oder des Knaben Wunderhorn lieber nicht ganz unvorbereitet messen sollten. Sie glauben mir nicht? Lesen die folgende Auswahl der Einträge von A-Z:
Baluster (oft ausbauchend),
Bauwich,
Biotit,
Blähton (meist außen gesintert),
Bosse,
Dachfirst,
Drempel (auch Kniestock genannt),
Einhausung,
Erker,
Feldspäte,
Finite Elemente Methode,
Fries (man unterscheidet Bogenfries, Schuppenfries, Zahnfries und Tierfries),
Gaube,
Gefach,
Gneis,
Hypokausten-Heizung,
Imbrex,
Intarsie,
Irdengut (unterhalb der Sintergrenze gebrannt),
Joch,
Kanneluren,
Krüppelwalmdach,
Libeskind,
Lichtmaß,
Mönch- und Nonnenziegel („Pressdachziegel, bestehend aus zwei Teilen, bei denen die Nonne den muldenförmigen Unterziegel und der Mönch den gratartigen Deckziegel darstellt. Der Mönch hat am oberen Ende einen angeformten Boden, der als Auflieger dient oder einen Ansatz innen zum Aufhängen. Die breiteren Nonnen haben am breiten Kopfende eine Nase, die das Einhängen an den Mönch ermöglicht“),
Mollnoff
Muffe („sie sind wohl mit der Muffe gepufft!“ (D. Hallervorden)),
Ortgang,
Perimeterdämmung,
Pfetten (unterzugartige Balken),
Rapport,
Rauspund,
Salzausblühungen,
Schamotte,
Sorption,
Sparrendach,
Stülpschalung,
Sturmhaken,
Trass („feingemahlener, natürlicher, aufbereiteter, saurer und puzzolanischer Tuffstein, der gemischt mit gelöschtem Kalk (Traßkalk) ein hydraulisches Bindemittel ergibt, das auch unter Wasser abbindet“),
Traufe,
Trockenestrich,
Unterspannbahn,
Verblender,
Volute („spiralförmiges oder schneckenförmiges Schmuckelement an den Enden des Ortganges, an Giebeln –Volutengiebel - und an inoischen Kapitellen.“)
Walme,
Weiße Wanne,
Wimperg,
Z-Buffer
und last but not least: Zwischensparrendämmung.

Sie glauben mir immer noch nicht ganz? Zu ihrer Bekehrung und meinem Plaisir, habe ich ihnen eine kleine Kurzgeschichte geschrieben, vermittels derer ich die lyrische Kraft der deutschen (Bau-)Sprache ein für alle Mal ans Tageslicht selbst des kanonfixierten kritischen Feuilletons zerren werde. Here we go:


Des Knaben „Wunderhorn“
Just der Pfette entstiegen, nur eine Stülpschalung übergeworfen, musste ich zum Rapport. Ich nahm die Unterspannbahn nach Wimperg und traf meinen Kumpel MC Ali Gheddo, genannt „der kranke Mann vom Bosporus“ (Bismarck).
- Ey alder Verblender, was gehd?
- Ach, das übliche. Nix im Gefach und ne Menge Drempel zu erledigen. Und du?
- Isch geh Meggdonnels, aber gesdern isch wa Strisch!
- Wie Strich?
- Na Strisch, Alder. Geile Biotit un feuschde Buffä.
- Du warst doch nicht wirklich auf’m Strich? Ist doch viel zu teuer.
- Nix teuä, Alder. Isch geh Trockenestrich, weissdu. Nix Einhausung in Traufe, nur gugge un spedä daheim Bauwich.
- Finite Elemente Methode!
- Genau Alder, aber, ma ählisch, am Anfang is dem scho bissi komisch. Ich so nervös un Muffe gehabbt. Un als die Alde sisch auziehd, isch voll so Blähton gemachd.
- Und dann?
- Ortgang!
- Verstehe. Aber wie wär’s denn mit herkömmlichem Irdengut?
- Alder, meinsdu Freundin? Zwei Minuhde Imbrex un dann griggd die gleich Baluster? Libeskind un so. Ohne misch!
- Aber die Salzausblühungen auf deinem Drell? Da kriegt man doch Schuppenfries.
- Ohne Gneis kein Preis Alder, un allema bessä als Joch der Ähe, gaube mir! Außedäm bin isch immä noch Rauspund. Nix gehe aufs Schamott! Ich immä saufe bis Weiße Wanne kommd!
- Weiße Wanne?
- Krangewagge alder!
Dann stieg er aus. Und als ich noch ein wenig ins Feldspäte und das Lichtmaß, überkam mich die Lust auf eine Kanne Lure und ein leckeres Frühstück aus anthrazit engobierten Flachdachpfannen. Wieder zu Hause betastete ich meinen Sturmhaken, verspürte eine plötzliche und unausweichliche Volute, und: Trass! Meine Hände nahmen meinen Sparren in eine zärtliche Walme. Doch alsdann besann ich mich und beschloss, ihn doch lieber abends im Dünnbett im Fugenschnitt zu verlegen. Kinder, Frauen und Dachfirst!

Q.e.d.
Und jetzt noch schnell den Bogen zu Dose, Sputnik und Konsorten finden, und die Kolumne wäre im Kasten. Vielleicht so:
Prunkbauten stehen in den Hört-hört-Rankings der Architekten-Posse naturgemäß sehr hoch. Auch Karnevalsvereine geben in der „närrischen Zeit“ gerne Prunksitzungen. Und da ich ob solcher plakatierten Verlautbarungen schon immer gerne (washabichmirdabeibloßgedacht-mäßig) Punksitzung gelesen habe:
Schön wäre es, sich eine solche öffentliche Punksitzung mal etwas ausführlicher auszumalen:
„Drauße stehd de Addse midd seim Schäferhund. Der willemal laud midd eusch „Degehsche“ brülle! Wolle merrn ereilasse? Narhallamasch!!“
Die Kapelle intoniert Anarchy in the UK im Dreivierteltakt, und den Rest können sie sich, diesmal, bitte selber ausdenken.

Unsereins nimmt derweil einen Holiday in the Sun und verbleibt bis demnächst mit besten Wünschen.
Ihr Lenin
(nur mein Punkerspitzname)


P.S.: Alle A-Z-gelisteten Stichworte können genauer nachgelesen werden auf http://www.architektur-lexikon.de
Außer einem. Aber Frau Mollnoff wollte unbedingt auch mal in einer Kolumne vorkommen, was ich hiermit gerne erledigt habe. Küss die Hand, gnä‘ Frau...
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I don't use poetry, art or music to get into girls' pants,
I use it to get into their heads.
Gast

Re: Hier is die Kolumme!

Beitrag von Gast »

Sehr schönt, Herr Lenin. Aber vergessen Sie mir neben der Architektur nicht die edle Kunst des Maschinenbaus, die mindestens ebenso saftig sein kann:
Die stufenlose Verstellung der Ablängsägen und Vorritzer garantieren genauste Zapfentiefen und beste Oberfläche für die Brüstung. Die vertikale Verstellung der Schlitzspindeln erfolgt stufenlos über Siemens Servo AC Motoren und Präzisionskugelumlaufspindeln.
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lenin
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Beitrag von lenin »

sehr sehr schön, Herr/Frau Gast.
Verraten sie mir die Quelle und vielleicht ihren Namen?
Bild
I don't use poetry, art or music to get into girls' pants,
I use it to get into their heads.
S. H.

Beitrag von S. H. »

Verehrter Herr Lenin,

werfen Sie doch einmal einen Blick auf diese Seite:
http://www.haberkorn-foerdertechnik.de/okoma-ufds.html

Nicht nur oben schon erwähntes Kleinod ist dort vorzufinden, nein, auch das folgende und weitere wunderhübsche Beispiele deutscher Sprachkunst sind dort zu bewundern:
Profiliermaschine mit 2 Stck. Spindeln a' 3 Werkzeuge Zusätzlich mit einer Glasleistenaustrennsäge und sep. Schattennutfräsaggregat. Auslauf auf Längsrollenbahn mit Glasleistenabtransport.
Zweite Frässtation zum nachfräsen der Flügelinnenfälze, Sohlbank-Oberseiten und Setzhölzer.
Mit dem Wunsch, auch einmal ein Schattennutfräsaggregat mein eigen nennen zu können verbleibe ich

S. H.
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Lavard
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Beitrag von Lavard »

Sehr geehrter Herr Lenin,

da derartige Texte bei Ihnen offensichtlich eine gewisse Erheiterung hervorrufen, will ich Ihnen einen Auszug meiner aktuellen Arbeit nicht vorenthalten:

Dreiteilige, klassizistische Familiengruft aus Sandstein, bestehend aus einem ädikulaartigen Mittelrisaliten sowie flankierenden Mauerflügeln. In der zweifach gestuften Sockelzone, die oben durch verkröpftes Gesims abgeschlossen wird, befindet sich seitlich jeweils eine querrechteckige Gedenktafel aus Messing, wobei die linke augenscheinlich jüngeren Datums ist. Eine vertikale Gliederung findet im Bereich des Mittelbaus über Wandvorlagen statt. Über diesen erheben sich zwei kannelierte Säulen ionischer Ordnung, sowie mittig eine Galvanoplastik Christi mit Plinthe, eine segnende Geste ausführend. Die Figur wird von einer Rundbogennische hinterfangen, die, gerahmt von römischen Pilastern und über ein Kämpfergesims horizontal gegliedert, oben in einem volutenförmigen Schlußstein mündet. Ein die Friedhofsmauer überragender Aufsatz in Form eines auf einem Architrav ruhenden Dreiecksgiebels komplettiert den Mittelbau. Das von einem Zahnschnittfries gesäumte Tympanon wird vom Wappen der Familie in Reliefausführung gefüllt, palmettenförmige Akroteria bilden den oberen Abschluss. Die Mauerflügel tragen jeweils eine zweifach profilgerahmte Gedenktafel mit den reliefierten Daten der Verstorbenen und werden von schlichten, römischen Pilastern flankiert. Die vor den Seitenwangen gelegenen Bereiche wurden nachträglich gefliest, während sich mittig vor der Ädikula die leicht giebelförmige Gruftplatte befindet. Eine Sandsteinzarge, sechs Pfeiler gleichen Materials sowie ein hüfthohes, schmiedeeisernes Gitter bilden die Einfriedung der Anlage.

Viel Vergnügen!
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lenin
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Ich alter Ego

Beitrag von lenin »

Ich alter Ego

All der Tand, den Jugend schätzt,
Auch von mir ward er verehrt,
Locken, Schlipse, Helm und Schwert
Und die Weiblein nicht zuletzt.

Aber nun erst seh ich klar,
Da für mich, den alten Knaben,
Nichts von allem mehr zu haben.
Aber nun erst seh ich klar,
Wie dies Streben weise war.

Zwar vergehen Band und Locken
Und der ganze Zauber bald;
Aber was ich sonst gewonnen,
Weisheit, Tugend, warme Socken,
Ach auch das ist bald zerronnen,
Und auf Erden wird es kalt.

Herrlich ist für alte Leute
Ofen und Burgunder rot
Und zuletzt ein sanfter Tod -
Aber später, noch nicht heute!

(Hermann Hesse)


Diese Kolumne beginnt mit einem mittelmäßigen Gedicht? Nun, sie wird mit einem noch viel mittelmäßigeren enden! Doch zuvor:
Vergessen sie die letzte Zeile obiger Reime!
Und vergessen sie vor allem alles, was bisher in diesen Kolumnen geschah!
Vergessen sie den bohèmen Dandy-Popanz, den der Kolumnist in den vergangenen Monaten um sich selbst errichtet hat, das scheinbar Überhebliche gegenüber scheinbar Unerheblichem, das großtuerische Geläster, das wortgewandte „nur die Guten vielleicht, die erkennt man doch gleich“ (Virginia Jetzt!) -und-ich-gehör-dazu-Gehabe, die gefühlskalte Hybris humanistischer Bildung, die stylish-urbane anything-goes und gotcha-anyway-Attitüde, vergessen sie mit anderen Worten, auch wenn’s schwer fällt, kurz meinen „heiligen Schwanz“ (M. M. Westernhagen).
Denn heute gibt es „the truth, the truth an‘ nothing but the truth, the motherfuckin‘ truth“ (Dinosaur Jr. with Del tha funky Homosapiens) bzw. für die einfacheren Gemüter „the truth motherfucker, the truth you sucker“ (Clawfinger)
Noch genauer gesagt kommt hier nicht nur the truth, sondern vielmehr the blues! Und zwar knüppeldick und ernsthaft und wie folgt:

Sie kennen ja inzwischen wahrscheinlich auch ca. ein Dutzend landläufige Verballhornungen für die schwarz-weißen Erhobener-Zeigefinger-Messages, die seit einiger Zeit unsere Kippenschachteln schmücken. „Nichtraucher langweilen sich an Bushaltestellen“, z.B. oder „Rauchen verkürzt ihre Zigarette“ und so. Letztere gibt es auch in der Version:
„Altern lässt ihre Haut altern“, aber das ist leider nicht lustig, sondern einfach nur schrecklich wahr und schlimm und in the long run unvermeidbar. „In the long run we’re all dead“ salbaderte zwar schon der gute, alte John Maynard Keynes, aber über die Grausamkeit des dem Tode vorausgehenden Lebensabschnitts, dem Alter, hat auch er geflissentlich den Mantel des Schweigens gehüllt.
Vielbesungen wie es ist, das Altern, und die atemberaubende Schnelligkeit, mir der es zu Werke geht, ist es doch immer noch in den goldenen Worten Gottvater Townshends am treffendsten verwünscht worden: „I hope I die before I get old“
Und werimmer die altehrwürdige live-fast-die-young-Attitüde mit zunehmender Faltenpracht zu relativieren beginnt, oder gar ob der vielen Peinlichkeiten in Gestalt etwa von Heavy-Metal-Bands der Achtziger und anderer, die sich mit ihr zu schmücken trachteten, als peinliches Rock-Klischee abzutun gedenkt, dem sei gesagt:
Sie sind offenbar noch nicht wirklich alt!
Sonst wüssten sie um deren tieftraurige Richtigkeit mehr als sie sich jemals träumen lassen konnten.
Der glücklichste Mensch ist der, der am Tage vor seinem Altwerden dahinscheidet.
Man altert nämlich wirklich von einem Tag auf den anderen. Eines unschönen Tages tut es einen Schlag, und – schwuppdiwupp („und es hat zoom gemacht“, K. Lage) – sind sie alt.
So jedenfalls ging es mir. Und glaubt man Medien wie der ZEIT, die größtenteils von alten Menschen konsumiert werden, sozusagen der Fachpresse geriatrisch-intellektuellen Möchtegern-Dünkels, geht es den meisten anderen genau so. Jedenfalls finden sich dort in regelmäßigen Abständen Berichte von Menschen, meist Mitte-bis-Ende dreissig, manchmal aber auch schon Ende zwanzig, die von ihrem „Tag an dem ich erwachsen wurde“ oder ähnlichem berichten. Der eine ist betrunken die Treppe zu seiner Stammdiskothek hinuntergefallen und hat sich dabei wichtige Knochen gebrochen, der andere hat sich beim Tanzen die Bänder im Knie gerissen; bei mir war es ein stinknormaler Kreislaufzusammenbruch am Tage 1 nach einer alkohol- und nikotinschwangeren Party. Einer Durchschnittsparty, wohlgemerkt, ohne großes Geknutsche oder andere handelsübliche Ausgehversüßungen. Das ist nun etwa ein Jahr her, und keine Genesung scheint in Sicht. Das zuvor unbekannte „Gefühl, wenn du wieder deinen Arzt betrübst“ (H.R.Kunze) betrat die Szene, und es ist here for good. Ist man erstmal alt, gibt es kein zurück mehr. Was kein Boxer vermag, können die süßen Tage der Jugend erst recht nicht vollbringen: They never come back!

Vergessen sie heiraten oder richtiger Job mit Verantwortung oder dreißigster Geburtstag oder ähnliche symbolische Einschnitte in Biographien. Alles Kindergeburtstag. Das Altern ist ein körperliches Phänomen, und es sind nicht Symbole, sondern es ist ihr oller, geschundener Körper, der einfach eines Tages nicht mehr mitmachen will.
Mein Körper hat mit mir Schluss gemacht! Ich bin alt.

Natürlich beginnt es sich schleichend anzubahnen. Der Körper sendet ihnen kleine, unübersehbare Warnzeichen, süße Damoklesschwertchen über ihrer genussmittelinduzierten mir-geht’s-blendend-Aura, die sich aber noch einige Jahre hervorragend ignorieren lassen, wenn man z. B. einfach am nächsten Tag weitersäuft.
Etwa Silvester 2000, die Jahrtausendwende, die Party, über die man sich schon Jahre vorher den Kopf zerbrochen hat, wie man sie wohl feudalstmöglich über die Bühne bringen könnte: Ich hatte die schönste Frau der Welt an meiner Seite, zunächst nackend, dann bestgekleidet bei opulentem Mahl, anschließend gab es noch die süßeste Droge von allen, die, die einen immer so unglaublich glücklich macht, doch mein Körper sang im Duett mit Anette Humpe: „Müde! Ich bin müde!“
Ein Moment in meinem Leben, in dem eigentlich alles hätte stimmen müssen, doch mein Körper wollte schlafen, nur noch schlafen. „I‘m sure that everybody sees how much my body hates me“ (Billy Bragg), sinnierte ich, und die schönste Frau knutschte, Recht hat sie, mit irgendjemand, der nicht müde war.
Das jedoch sind nur die kleinen Zeichen. Denn am nächsten Tag war wieder alles ganz normal. Wenn sie alt sind, ist aber jeder Tag so. Nur meistens ohne die schönen Frauen und die schönen Drogen.
Zur Zeit der kleinen Zeichen stand ich manchmal morgens um fünf im Tanzlokal meiner Wahl und wurde ein wenig depressiv. Am nächsten Tag traf man gute Freunde, lachte über das Erlebte, und alles war gut.
Wenn man alt ist, geht man spätestens um zwei nach Hause, und trifft am nächsten Tag keine Freunde mehr, weil man Angst hat vor die Tür zu gehen – man könnte zusammenbrechen. Außerdem ruft einen sowieso der Darm alle halbe Stunde zur iterativ-besinnlichen radikal-Entgiftung.
Als junger Mensch regieren Herzblut und Samenstränge ihren Körper, und sind in der Lage, jede Revolution „von unten“ im Zaum zu halten, oder zumindest für nichtig zu erklären. Im alten Körper jedoch ist der Darm diktatorischer Regent, vielleicht auch nur ausführendes Organ, geknechteter Volksarmist, für die im Hintergrund die Fäden ziehenden Leber und Niere, wer weiß. Jedenfalls drücken Herzblut und Samenstränge längst die harte Oppositionsbank, und in ein paar Jährchen schon werden sie selbst an der Fünf-Prozent-Hürde kläglich scheitern. Manchmal suchen sie verzweifelt Neuwahlen auszurufen, doch der Bundespräsident hat verfassungsrechtliche Zweifel („in ihrer Verfassung??“), der Reform- (und Darm-) Druck der Sachzwänge hat sie längst ins körperliche Abseits befördert, und das Desinteresse der Medien (pronounce: Mädchen) erstickt ihre desperaten Freiheitsrufe bereits im Keim. Herzblut und Samenstränge fristen ihr trauriges Restdasein ungehört im Reservat des heimischen Sofa-Ghettos.

Und außerdem: Die Blase! Jeder junge Mensch lacht sich zurecht „scheckig“ über Fernsehwerbung für Granofink oder verwandtes. Der alte weiß: Es sind nicht bloß die Rentner aus der Werbung, für die solche Pharmazeutika erfunden werden. Es sind wir. Früher fragte ich mich immer, was zum Teufel meine Eltern dazu bewegt, sich in die Mittelgebirge zu begeben, um endlangweiligen Beschäftigungen wie z.B. dem Wandern nachzugehen. Heute weiß ich, auch wenn ich ihnen hin und wieder was ganz anderes vorgaukele: Das Alter lässt einem keine Wahl. Der Wald ist der einzige Ort, wo man jederzeit relativ unbeobachtet im Gebüsch verschwinden kann, um eine urinale Notdurft zu verrichten. Eine, die man einfach nicht mehr einhalten kann.
Alter, dein Name ist Inkontinenz. Wenn ich „in die Stadt gehe“ zum Shoppen, führt mein erster Weg immer zu Kaufhof. Nicht, weil es dort so tolle Sachen zu kaufen gibt, sondern weil sich dort ein hygienisch halbwegs zu ertragendes Pissoir befindet.
By the way: für auf dem Abort auszuführende Tätigkeiten sind ja, nicht nur in der deutschen Sprache, allerlei blöde und noch blödere idiomatische Begrifflichkeiten gängig. Für den Akt des „Wasser lassens“ z.B. die Formulierung „eine Stange Bier in die Ecke stellen“ (sehr blöd), „für Königstiger gehen“ (blöd) „dahin gehen, wo der Kaiser zu Fuß hingeht“ (sagen so Leute wie Walter Giller) „die Boa melken“ (eigentlich, öche, ganz gut) und „mal für kleine Mädchen gehen“. Letzteres war zu Zeiten meiner Eltern durchaus landesweit üblich, trägt aber in heutigen post-feministischen Verhältnissen nicht ganz zu Unrecht einen eher zweifelhaften Ruf und ist spätestens seit dem belgischen Kinderporno-Medienbohai gänzlich unten durch. „Abschlagen“ ist recht luzid und daher brauchbar, und Mütter müssen ihre Kleinkinder hin und wieder mal „abhalten“. Einst besuchte ich mit einer jungen Mutter samt Kind ein Rock-Festival, und bald musste der Kleine „mal Bächlein“. Als Mutter und Kind das Dixie-Klo wieder verließen, raunte ein Jugendlicher seinem Kumpel zu: „Eäh, von so’ner Alten würd‘ ich mich auch gern ma‘ abhalten lassen!“ Darüber musste ich herzhaft schmunzeln.

Das größte Rätsel der Altersmüdigkeit ist eben jene Müdigkeit.
Junge Menschen leben, und zwar jeden Tag so vor sich in, bis es nix großes mehr zu leben gibt, und dann gehen sie schlafen. Alte Menschen sind für alles zu müde, können aber abends nicht einschlafen. Es sei denn, sie trinken so viel, als hätten sie was erlebt. Dann schlafen sie zwar ein, werden aber gegen halb fünf wach – die Blase! – haben hernach Angst, nicht mehr einschlafen zu können, was prompt passiert, und sehen am nächsten Tag auf der Arbeit noch älter aus, als sie es ohnehin schon sind. Denn sie haben ja nicht nur wenig gepennt, sie haben noch dazu ihren Rausch nicht ausgeschlafen.
In China und so werden, so heißt es jedenfalls immer, die Alten noch geachtet wegen ihrer Weisheit und Reife. Natürlich totaler Bullshit. Alte Menschen, so wie ich, sind einfach nur noch ganz erbärmliche Opfer. Biologisch stirbt der Mensch eigentlich mit Ausklingen seiner Geschlechtsreife, und so ist’s richtig. Alles andere ist zweifelhafter Lohn der modernen Medizin, und keinem, am wenigsten den Alten, ist damit gedient.
Bei den alten Spartanern gab’s die Gerusia, den Rat der Alten, eine Art antikes House of Lords, in dem die Weisen und Gerechten zu Gericht saßen. Was in den Geschichtsbüchern gleichsam plausibel und erhaben klang, war genauer besehen ein Rumpfparlament im wahrsten Sinne des Wortes: nie mehrheitsfähig, weil immer die Hälfte der Abgeordneten gerade abschlug, und die, die noch anwesend waren, machten sich mehrheitlich gerade in ihre prähistorischen Pampers, ob eines Oberschenkelhalsbruchs am behenden Verlassen des Plenums gehindert, während ihr Zivi gerade Liebesdienste an osteoporösen Philosophen zu verrichten hatte (vgl.: Foucault: Sexualität und Wahrheit).

Das Alter ist einfach ein durch und durch beklagenswerter Zustand.
Gern lässt man sich immer wieder täuschen von vermeintlichen Ausnahmeerscheinungen. Mein Jugendfreund Kettner z.B. trank schon sein Leben lang immer genau doppelt so viel wie ich, ohne jemals auch nur einen Hauch von Trunkenheit anzudeuten. Natürlich kennt Kettner auch all die oben gelisteten Probleme nicht. Kettner macht seinen Job tagein tagaus, ohne zu murren, und ein Leben ohne Suff ist ihm vermutlich gar nicht vorstellbar. Kettner ist eine Alkoholvernichtungsmaschine. Dafür hapert’s bei ihm halt ab und an ein wenig am Niveau.
Zu Mittelstufezeiten hatte Kettner kurz den Spitznamen „Chicky“. Seinerzeit hatte er nämlich genau zwei Lieblingslieder (vermutlich kannte er nur diese zwei Songs), die beide, in seinen Worten, mit „Tschikke“ begannen. Und so hat er sie auch gerne laut gesungen. Das eine war Tschikkeria von Spider Murphy Gang („tschikk-tschikk tschikk-tschikke-tschikkeria“) und das andere TschikkeTschäns von Abba („If you change your mind – tschikketschäns, I’m the first in line – tschikketschäns“ etc.). Aber das nur am Rande.
Der Spitzname hat sich nicht lange gehalten, vermutlich weil „Chicky“ schon bald nicht mehr recht zu Kettners wachsender Leibesfülle passen mochte. „10 Kilo mehr Mann für den gleichen Preis“ pflegte er den Mädchen barsch ins Gesicht zu sagen, doch die umschwärmten lieber die angehenden Popstars wie Herrn Lenin. Schlecht gewettet, liebe Damenwelt!
Die erfolgreichsten Tussis von damals müssen nun ihr Leben mit abgehalfterten Wracks wie mir teilen, während die Kettners dieser Welt heute väterlich-jovial fünfköpfige Familien ernähren, incl. Kombi und Reihenhaus im Grünen, versteht sich.
Kettner persönlich hat übrigens noch keine Familie. Spät aber bestimmt hat er nämlich auch noch angefangen Musik zu machen, natürlich Gitarre. Sein Hauptmotiv war wohl, sich einen Verstärker der Firma Hughes+Kettner kaufen zu können. Er pflegte das „juhsn kettner“ auszusprechen, als wäre alles, was mit Roch’n’Roll zu tun hat, grundsätzlich aus Amerika. Und wenn ich es mir recht überlege, wäre Youth an‘ Kettner eigentlich die viel schönere Überschrift für diese Kolumne gewesen.
Doch ach, nun ist sie schon fast geschrieben, und ich möchte keine allzu radikalen Änderungen mehr vornehmen. Sie begann mit einem Gedicht von Hesse, und so soll sie auch mit einem solchen enden. (Und Herr Kettner wird eines Tages auch noch altern, „denn eins kann man ja wohl sagen: <Wir kriegen sie alle ... wir kriegen sie alle ... wir kriegen sie alle ... wir kriegen fade out>“, zitiert nach: Abwärts – AmokKoma)


Alter, nennst dich: Nathan, greise,
weise, heißt: Methusalem.
Leben, das ist satansweise:
Reise nach Jerusalem

Jugend, die du wild und hektisch,
Bräute live und haul erprobst.
Heute: nix mehr „auf dem Ecktisch“.
Heute: reif wie faules Obst!

Jugendhäute, die verlässlich
Weg zu jeder Feier weisen.
Alter: Haut ist nurmehr bläßlich,
über mir die Geier kreisen.

Jugend: Sexualminister
(Fick van Hinten, Schwing-Dein-Ding).
Heut‘: gescheiterter Philister
optisch gleichend: Theo Ling’n

(Lenin, Hesse)

P.S.: Ursprünglich wollte ich Sexualminister gerne auf Lemmy Kilminster reimen, aber das klappte irgendwie einfach nicht.
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Hinter (Würfel-) Gittern

Beitrag von lenin »

Hinter (Würfel-) Gittern
Neues aus der Medizin


Nun, ich war wieder viel unterwegs, „Hamburg, München, Frankfurt, Berlin, Kokain“ (Extrabreit). Ausschließlich für Sie natürlich, liebe Leserin, lieber Leser, um zu Ihrem plaisir mal wieder mit altklug-mokanter Kolumnenrede hereinzustolzieren, ihnen süße Geschichtchen zu kredenzen, welche, obzwar wohl mit gespitzter Feder notiert, doch letztlich immer versöhnlich den Blick auf das Gute in uns allen gerichtet halten; eben genau so wie man es uns auf der Elite-Kolumnistenakademie (Euphemismus für: der Verleger) seinerzeit behutsam mit dem Rohrstock nahegelegt hat.
Jedoch, wenngleich ich auch noch in Karlsruhe, Würzburg und Zürich mein Glück versuchte: Es wollte einfach ums Verrecken nichts passieren, was Anlass genug geboten hätte, daraus eine Story zu stricken. Drei Monate Lotterleben und wilde Wanderei und ein Kolumnenertrag, der gegen null tendiert. So aufwendig kann das Leben sein.
Und da ich, wie ihnen vielleicht aufgefallen ist, nur die literarischen Genres Reisebericht und Druckwerkfledderei drauf habe, bedurfte es also der Lektüre der Rock Hard, d.h. eines Fachmagazins für landläufiges HeavyMetaltum, um mich zurück an die Tastatur zu bewegen.

Aufgeweckt hat mich das nette Statement
„Hätte ich so weitergesoffen wie früher , wäre es wohl bald zu einer weltweiten Verknappung der Wodkavorräte gekommen.“ von Nevermore-Sänger Warrel Dane, und also gönnte ich mir noch ein paar weitere Minuten Zeit, in diesem Druckwerk aus einer mir völlig fremden Welt zu schmökern.
Fremde Welt? Nun ja, wir geschmacksgestählten Städter taten uns traditionell etwas schwer mit dem Verstehen eher pastoraler Absonderlichkeiten, wie dem Konsum alberner Schreihalsmusik in Tateinheit mit Gitarrengejaule und allgemeinem Bösetun, schrieben wir doch schon von Kindes Beinen an dem eher subtilen Appeal des Pop in all seinen Erscheinungsformen das größere Subversionspotenzial in die Schuhe. In die champagnergetränkten Pumps, wohlgemerkt, bzw. britpopmäßig meinetwegen auch in die abgelatschten Converse All-Star, jedenfalls nicht in irgendwelche Cowboy- oder gar Motorradstiefel, auch nicht in die allzuoft besungenen blue suede shoes. Kiss-inspirierte Astronautenboots aus pailettenbesetztem schwarzen Leder auf Plateau werden diesbezüglich von einigen Subversionsexperten als Grenzfall eingestuft.

Nun, das Titelbild der Postille erfüllt schon abseitigste Erwartungen, präsentiert man doch ebenda das piktorifizierte Grauen in Menschengestalt. Obendrüber steht in grellrot Rock Hard und untendrunter in grellgelb böhseonkelz. Und prompt schwant dem rockkritisch vorjustierten Geist, das selbst das oberflächlich nette Eingangszitat des Herrn Dane einen kleinen Fehler enthält. Oder seit wann trinkt man Wodka?
Zugegeben, Russen trinken Wodka, und zwar ordentlich im zweifachen Wortsinne. Erstens halten sie dabei ein albernes Ritual ein, so mit immer ein Stückchen Weißbrot dazu essen und so, und andererseits trinkt einen selbst eine durchschnittliche russische Büroblondine für gewöhnlich dreifach unter den Tisch, wenn hauptsächlich ihr Nationalgetränk serviert wird. Wodka ist nämlich im Grunde gar kein Getränk sondern pures Gift. Wenig schmackhaft, furchtbar ungesund, und es macht blind. Zwar vermag man durch Hinzugabe einer österreichischen Koffeinlimonade, den Fusel in einen trinkbaren Aggregatzustand zu versetzen, doch derlei käme für einen gestandenen Hardrocker vermutlich nicht in Frage.
„Plörre“ grunzt der waschechte Metaller, wenn man RedBull vorschlägt, assoziiert er doch dieses Getränk mit über Jahre liebgewonnenen Feindbildern (Techno) oder, allgemeiner gesagt, mit irgendwelchen Clubs, in die er nicht reinkommt. Was ja nicht so verwunderlich und auch nicht so schlimm ist.
Hardrocker mal beiseite gelassen, bin ich grundsätzlich nicht so der Freund von Diskotheken, die gänzlich auf die sogenannte Türpolitik verzichten. Damit möchte ich nun fürwahr keine Lanze für irgendwelche Schnöselläden brechen. Frankfurt hat hunderte davon, und sie stinken, wie der Großteil des hiesigen Nachtlebens gen Himmel. Allerdings verfügen wir auch über zwei Läden, in die nun wirklich jeder reinkommt, und das scheint mir auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Ich meine, was bekommt man üblicherweise, wenn jeder mitmachen darf? BILD-Zeitung, Format-Radio, Demokratie und solche Sachen. Ähnlich erlesen sind denn auch besagte Clubs, und die Musik, obgleich zumeist alternative getauft erweist sich als stets eine Nummer zu abgedroschen und durchgenudelt. Vom latenten Aggressionspotenzial einer Hand voll anwesender, (voll anwesend, versteht sich) mal abgesehen. Im Roxy in Köln oder im Cave in Frankfurt durften selbst harmoniesüchtige Friedensengel wie ich schon mal grußlos eine Kopfnuss einstecken. „Recht so“ mögen sie denken, aber... Ich schweife ab.

Mal abgesehen von dem brechreizerregenden Titelbild ist eine Hardrockzeitschrift nämlich durchaus eine Oase für Freunde rhetorischen Feinsinns.
Besonders gefallen haben mir, wie so oft in Magazinen, die üblichen Leserbriefe. Eine kryptische Macht der Subpsyche bewegt immer wieder Zeitgenossen dazu, ihre redundante sogenannte „Meinung“ in der Öffentlichkeit kundzutun, sei es in Form dünkelhaft Kolumne getauften Schwadronierens, sei es in Form eines Briefes an die Leserbriefseite ihrer Wahl. Speziell in Musikzeitschriften haben die dort stattfindenden Leserdiskussionen oft etwas angenehm rührendes. Neben den naheliegenden Fragen, ob man z.B. eine Band jetzt gerade außergewöhnlich schnufte oder eben nicht finden darf, welche Tattoos gerade, oder wieder, oder immer noch Kult sind, werden dort auch gerne offenbar artverwandte Lifestyle-Themen wie Vegetariertum, Ausländerfeindlichkeit, allgemeines Sozialverhalten und ähnliches verhandelt. Ich präsentiere ihnen einfach mal ein paar kurze Ausschnitte, mit deren Wortwahl man teilweise ruhig sympathisieren darf.

So schreibt Thomas aus Berlin:
„Toleranz bedeutet Duldsamkeit, Verständnis, Akzeptanz, egal ob mit Nieten oder sauberen Hosen, langen oder kurzen Haaren, Stiefeln oder Turnschuhen. Wichtig ist, Spaß zu haben und sich und seine Interessen nicht vor die anderer zu stellen. In diesem Sinne: immer schön Frittenpieker hoch und Omme geschüttelt!“

Karl Heinz aus Graz:
„Dass es auch anders geht [als sauteure Konzerteintrittspreise] zeigt eine Metallica-Tribute-Band namens Orion. (...) Für sechs bis acht Euro bekommt man Spielzeiten von 150 bis 180 Minuten serviert und bangt sich dabei die Birne vollends nach Walhalla.“

Christian aus @gmx.de:
„Ein hörbarer Schnitt [vulgo Studiofehler - auf einer CD-Produktion] ist heutzutage nämlich nichts anderes als schlechtes Handwerk. Das war es früher auch schon, aber im digitalen Zeitalter, mit zweiunddrölfzig Undo-Schritten darf das erst recht nicht mehr vorkommen.“

Andererseits freut sich Roland aus @reg-ofr.bayern.de bei Iron Maiden immer über die Erinnerung an „seine erste geile Schlägerei mit Poppern“
und bei Martin aus Rhede löst allein der Albumtitel von Billy Idol’s Devil’s Playground „eine linksseitige Gänsehaut“ aus.
Dabei weiß Patrick aus Groß-Umstadt, dass Steve Stevens ein „begnadeter Saitenakrobat“ ist, „der so manchen Kollegen seiner Zunft wieder zurück auf die Schulbank befördert. Ich [Patrick] weiß, dass Billy Idol seine Füße zeitweise im Pop-Business hatte, und ein paar Stücke sind auch echt Moppelkotze, aber er ist immer der Rebell geblieben, der er war, und hat nie vergessen, wo er herkommt (England, Arbeiterklasse).“

Hört, hört! Arbeiterklasse! Da ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Jan aus Marwitz:
„Ich bin ein sehr links eingestellter Linker mit Hang zum Satanischen (nicht Satanistischen).“
Hier wird’s etwas verstrickt. Da muss ein sehr links eingestellter Linker mit Hang zum Leninschen (nicht Leninistischen), bzw. umgekehrt, erstmal etwas drüber nachdenken.

Schließen wir den kleinen Ausflug in die Hardrockwelt mit Hannes aus @gmx.de:
„Diese ganze Seuche ist die Ursache dafür, dass Bands, die den Sound von früher in ihren Proberäumen erklingen lassen, heutzutage von der Masse nicht mehr akzeptiert werden, nur weil sie keinen Sänger haben, der sinnlos durch die Gegend grunzt oder keift wie eine Katze, der man auf den Schwanz tritt.“
Mich dünkt, Hannes wäre womöglich der passendere Autor für eine derbe Philippika gegen das Phänomen HeavyMetal, weshalb ich an dieser Stelle auch abbreche. Zwar glaube ich weiterhin, dass man in dieser Musiksparte mehr Arbeiter als Klasse finden wird, aber de gustibus est bekanntlich non disputandum, und ich wollte hier ja auch gar nicht gegen die Langhaarfraktion lästern, sondern sie lediglich an meiner offen bekundeten Freude über die oben zitierten Stilblüten teilhaben lassen.

Bleiben wir lieber noch ein wenig bei den Kaltgetränken. Diese im Sommer (auch wenn dieser heuer nicht so richtig hochkommt) angenehm kühl zu halten, ist nämlich eine ernstzunehmende Aufgabe. Viele schwören auf kleine Äppler und kleine Biere. Weil die nämlich, so heißt’s, nicht so abstünden, und speziell im Sommer eben auch nicht eklig warm würden. Dies jedoch hieße im üblicherweise bestenfalls mittelmäßig gecaterten BeachClub sich mit seinem erstandenen Glas immer gleich wieder hinten in der Schlange anstellen, denn bis man wieder dran ist, ist das köstliche Gut längst im durstigen Schlund versenkt. Das scheint mir eine suboptimale Lösung zu sein, auch zu Hause, wo es einige Zeit in Anspruch nimmt, das Kolumnistenpenthouse vom Balkon bis zum Kühlschrank zu durchmessen. Man möchte ja dasitzen und im Kreise der liebsten, dummes Zeug reden, und nicht dauernd um Nachschub sich sorgen.
Also Eiswürfel. Eiswürfel gehen so: Man nimmt das Würfelgitter (heißt das so?), lässt auf eine kleine Ecke umseitig ca. vier Sekunden lang warmes Wasser laufen, klopft alsdann auf diese Ecke, und schon bröckeln aus allen Ecken des Gitters munter Eiswürfel in die auffangbereite Hand, die Spüle, auf den Fußboden, und im Ohnsorg-Theater würden sie auch noch in den Ausschnitt der Schwiegermutter fallen. Morgens vergisst man immer, das Eiswürfelgitter wieder aufzufüllen, und nach spätestens drei Abenden ist das Eis alle. Deshalb hier mal etwas total seltenes: ein Lob auf Amerika! Dort kann man nämlich an jeder Tankstelle Eiswürfel kaufen. Gegenüber des Kolumnistenpenthauses befindet sich eine 24-Stunden-Tankstelle, und wären wir „jenseits des großen Teichs“, das Kaltgetränkekalthalteproblem wäre gleichsam Geschichte.
Im Club gibt es zwar immer Eis, aber ein weiteres Dilemma ist damit noch gar nicht angesprochen. Denn zwar vermag Eis ein Getränk eine Weile lang wohltemperiert zu halten, doch unentrinnbar droht das Schicksal des Verwässerns der köstlichen Erfrischung. Man kann es also halten wie man will. Entweder trinkt man noch schneller als üblich, oder man nimmt kleinstmögliche Behältnisse und also die angesprochenen Folge einer schleichenden Desozialisierung in Kauf, oder man wählt wie üblich große Gläser und kämpft alsbald mit einer schalen Schmelzwasserschorle.

Das sollte uns den Sommer allerdings nicht vermiesen. Es handelt sich ja trotzdem um eine durch und durch lobenswerte Jahreszeit, ja nachgerade eine meiner Lieblingsjahreszeiten.
Auch Rauchen und Trinken machen nochmal so viel Spaß, wenn man es im Freien tun darf, wie überhaupt vieles eine angenehme Milde bekommt, wenn nur das Wetter ebendiese auch vorgibt. Und die Mädchen tragen kurze Röcke.

Bewundernswert an Nikotin- und Alkohol-addicts ist ihr Talent, den eingenommenen Giften mit immer neuen seemannsgarnösen Geschichten eine quasi-medizinische Rechtfertigung anzudichten. Jedermann bekannt ist ja die, wohl auch bewiesene, Vorbeugekraft des täglichen Glases Rotwein gegen Arterienverkalkung und also Herzinfarkt. Leider bescheiden sich aber Menschen, die dem täglichen Konsum frönen, selten mit dem einen Glas, und ob auch eine Flasche täglich noch den Kardiologensegen bekäme, erscheint doch äußerst fraglich. Jedoch kein Grund zur Sorge Freunde, denn auch täglicher Aspirin-Konsum verringert das Infarktrisiko nachweislich. Also ruhig immer so viel trinken, dass man am Folgetag Kopfschmerzen hat, und dann zum Frühstück einfach eine Aspirin geworfen. Easy.
Vermutlich ist ihnen auch schon zu Ohren gekommen, dass Heroin ursprünglich von der Firma Bayer als Schmerzmittel auf den Markt gebracht wurde. Es gibt herrliche Werbeplakate aus den Zwanzigern oder so, mit glücklichen jungen Paaren drauf, und der Botschaft: „Endlich schmerzfrei – dank Heroin“. Ja, vielen Dank.

Ich hatte mal einen Arbeitskollegen, Kluske, und Kluske war der Großmeister im Sich-Schönreden seiner niederen Instinkte. Neben einer Vorliebe für „harte Sachen“ rauchte er gern starke, filterlose Zigaretten. Und zwar, so Kluske, „weil die viel gesünder sind als diese Light-Kippen“. Light-Zigaretten enthalten nämlich, so wusste er zu dozieren, undendliche Mengen an chemischen Geschmacksstoffen, die natürlich ungleich gesundheitsschädlicher seien als der im Grunde ja „natürliche“ Tabak seiner amtlichen Männerfluppen. Kluskes beste Story war allerdings die, dass man als Raucher seine Lunge mit einer ganz einfachen Übung relativ rückstandsfrei sauber halten könne. Man müsse bloß einmal täglich, konzentriert ca. zwanzig Mal ganz tief ein- und wieder ausatmen. Durch das starke Aufblähen der Lunge würden dann Teerrückstände und sonstiger Schmodder von den Lungenbläschen förmlich abspratzen – ein physikalisch einfach nachzuvollziehendes und daher plausibles Prinzip. Am besten natürlich in der Sauna, Kluske war schließlich Genießer.
Nebenbei wusste Kluske auch den gesamten Rest seines Tuns mit einer überzeugten Selbstverständlichkeit lobzupreisen, die ihresgleichen suchte. Etwa seine dilettantischen Techno-Produktionen, die er wahlweise als „Minimal-Avantgarde“ oder „halt einfach geil“ klassifizierte, seinen ins leicht paraästhetische gerundeten Bauch („hey, das ist dandyism-goes-barock, aber Stil ist für euch ja sowieso ein Fremdwort!“), und selbst einem vordergründig möglicherweise profan wirkenden Vorkommnis wie einem seinerseits hasardeurshaft gewonnenen Pik ohne drei mit nur fünf Trumpf (Trumpf-As gedrückt) wusste er ein objektiv-distanziertes Urteil („einfach nur geil gespielt von mir, jeder andere hätte den verlor’n, jeder!“) beizumessen.
Überflüssig zu erwähnen, dass das Großmaul es natürlich wirklich in der Kunstszene zu „was gebracht hat“, und auch immer die schärfsten Tussis abschleppte. So ist bekanntlich der Welten Lauf.
Und nachdem Kluskes Lungen-Abspratz-Theorie über Jahre für viel Geschmunzel in dem ein oder anderen Kneipengespräch sorgte, musste ich doch tatsächlich neulich in der Zeitschrift Bolzen, folgende Aussage des Düsseldorfer Physiotherapeuten Bernd Restle lesen:
„Wenn man abends unterwegs ist und trinkt, dann setzen sich Alkoholpartikel auf der Lunge ab. Wer es dann am nächsten Morgen schafft, laufen zu gehen, der knallt die abgelagerten Teilchen raus und wird sich deutlich fitter fühlen.“
!!!!
Also, äh, dieser Typ, der Restle, der ist immerhin der Physiotherapeut der deutschen Fußballnationalmannschaft. Sollte doch eine halbwegs vertrauenswürdige Quelle sein. Alkoholpartikel!! Kann man einfach so rausknallen!

Wissen sie was, ich geh jetzt erst mal ordentlich abspratzen. Dazu wird ne geile Hardrockscheibe aufgelegt, und zwar mit einer Lautstärke, die sich gewaschen hat liebe Nachbarn, und dann bang ich mir zu einem Eimer Wodka mal schön straight die Birne nach Walhalla. Natürlich nicht irgend so’ne Moppelkotze, sondern meinetwegen Helmet. Die darf man ja auch als Intellektueller hören.
Dann heißt’s Frittenpieker hoch und Omme geschüttelt, nicht gerührt.
Und morgen früh lauf ich einen Marathon, und knall die ganze Scheiße nationalmannschaftsmäßig einfach wieder raus.
Schön, dass manche Dinge so leicht zu lösen sind.
Rock hard, ladies and gentlemen!
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It's Freiburg, I'm in love

Beitrag von lenin »

„It’s Freiburg, I’m in love“ (The Cure)
Lenin und das Handwerk

Der Verleger möchte, dass es mehr menschelt. Ich solle ruhig mal etwas, oder besser: andere Menschen, nicht nur wortgewaltig um- und beschreiben, sondern richtig lieb haben. Ich solle mal Schwächen zeigen. „Das mögen die Leser“, sagt er dann und verweist auf Statistiken, die soeben im Auftrag des „Lesezirkels“ erhoben wurden. Sie wissen schon, „Lesezirkel“ – diese dunkelblauen Ummantelungen des „Goldenen Blatts“ und der „Aktuellen“, die immer in Wartezimmern von Dorfärzten und Fußpflegepraxen herumliegen.
Nun, als ich begann zu schreiben, malte ich mir eigentlich eher aus, dass meine Werke in den Wartezimmern von Modelschulen und den Pausenhöfen von Mädcheninternaten gelesen werden, aber ok.
Also erzähle ich ihnen heute nicht nur, dass ich hier in Freiburg bin, sondern, damit es menschelt, gebe ich ihnen eine Extraportion emotionalen Output gratis mit auf den Weg. Die Kolumne mit dem Emo-Blubb: Ich LIEBE Freiburg!

„Ich weiß nicht, warum ich sie so hasse, die Fahrradfahrer dieser Stadt“ übertrieb Dirk von Loffzoff, und dieses eine Mal entgegne ich ihm, einem meiner Idole und Lieblingsmusiker, mit den Worten des wiederum von mir gehassten Sting: „I don’t subscribe to this point of view.“
Freiburg ist die schönste Stadt Deutschlands! Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass bei neutraler Betrachtung Wiesbaden, ja, das Wiesbaden, mindestens ebenbürtige Chancen auf diesen Titel hätte. Doch Wiesbaden liegt zu nahe meiner Heimat, es fehlt also der Reise/Urlaubs/Fernwehfaktor und meinerseits die wichtige neutrale Beobachterposition. Außerdem tragen hessische Polizeiautos Wiesbadener Kennzeichen, und es residiert dort ein Ministerpräsident, den als Arsch mit Ohren zu bezeichnen wohl noch als eher zurückhaltendes Statement durchginge. Also Freiburg on top of the pops.
Objektiv gesichert ist, dass es sich bei Freiburg um die wärmste Stadt Deutschlands handelt. Eine subjektive Stichprobe hat sogar ergeben, dass hier eigentlich immer über dreissig Grad sind. Ferner geht die Mär, dass man sich hier sogar einen grünen Bürgermeister hält, der die Stadt zur atomwaffenfreien Zone deklariert hat u.ä. Hört sich ja nun nicht unsympathisch an.
Und Freiburg hat den Segen der Studentenstadt. Überall junge, hübsche, mit Ökostrom betriebene Menschen, mit denen man jederzeit mal eben schnell eine anregende Diskussion über die subalternen, doch wiewohl virulenten Zusammenhänge zwischen Sozialismus, Volker Finke und der tragischen Komponente im Frühwerk Mallarmés vom Zaun brechen kann. Danach wird natürlich geknutscht.

Ich sitze also hier in Freiburg, schaue mich ein wenig um, tue nichts und genieße.
Es ist warm.
In Freiburg möchte man jedes zweite Mädchen, das vorbeiläuft, spontan mit einem Heiratsantrag beglücken.
Na ja, jedes dritte.
Ich habe mich gerade noch mal umgeschaut – sagen wir: jedes fünfte Mädchen.
Ok, wir bleiben realistisch, jedes sechste.
Also gut: keine, aber nirgendwo sonst in diesem Land wäre die Wahrscheinlichkeit ähnlich hoch, dass einen eine Champagnerlaune des Schicksals doch Mal dazu verführt, einer Dame die ewige Liebe anzutragen. Hier gibt es noch Erstsemesterinnen, die barfuß in Wickelröcken Tonnen von indischem Geschmeide zur Schau tragen, ohne deshalb gleich der örtlichen Crackszene zugerechnet werden zu müssen. Die es in Freiburg vermutlich gar nicht gibt. Denn hier wirken alle so angenehm wohlbehütet und gutbürgerlich-gesund, dass es eine Art ist. Vermutlich war es ja genau dieser bürgerliche Muff, der Herrn Loffzoff seinerzeit zur Flucht in die vermeintlich „echte“ Großstadt nötigte, doch ach! Ist es nicht wunderschön und herzerwärmend, wenn man heutzutage in einer Stadt noch in halbwegs zufriedene, unverdorbene Gesichter blicken darf? Ich finde, dieser Muff hat durchaus etwas versöhnliches, so eine Art Hauch der goldenen Siebziger, als Jugendliche noch flausige Visionen vom besseren Leben vor sich hertrugen, wenngleich der damalige Kanzler ja immer gesagt hat, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Aber der war ja auch aus dem kühlen Norden. In meiner Heimatstadt tragen die meisten Jugendlichen neben dem handelsüblichen Fasfoodbauch allerhöchstens noch den tag ihrer jeweiligen Stadtteils-Ethno-Gang vor sich her; alles ist nämlich voll real, und das äußert sich hauptsächlich in dementem an-Straßenecken-Rumhängen und regelmäßigem aufs-Trottoir-Spucken (vgl. Heidelberg-Kolumne). Als derart Großstadtgeschädigter atmet man den Freiburger Wohlstandsmuff jedenfalls genüsslich wie eine Sauerstoffdusche.

Mein Zimmer ist im Intercity-Hotel. Obgleich nicht ganz billig, liebe ich Intercity-Hotels (wieder diese unterschwellig mittransportierte Gratispackung emotionalen Zusatzinhalts – ich bin auf einem guten Weg als Autor). Diese befinden sich gewöhnlich direkt am Bahnhof. Das ist unter reiselogistischen Gesichtspunkten sehr praktisch, und nachts kann man aus dem Fenster im achten Stock dem Zugverkehr und dem Treiben am Bahnhof zuschauen, dem Fernweh frönend. Sie wissen schon: Männer und Eisenbahn und so.
Was ich nicht so liebe, sind Einzelzimmer. Einzelzimmer tragen den schwülwarmen Odeur des Schmocks. (Parental advisory: Ich bitte die Vorleseeltern, den folgenden Absatz nach achtzehn Uhr nicht mehr ihren Kleinkindern vorzulesen)
Nach einer Erhebung des Leninsbach-Instituts für angewandte Sozialforschung werden Einzelzimmer zu 97% von Männern frequentiert.
Und was machen die da wohl alles so in diesem Einzelzimmer, so unbeobachtet, und allein, und fern von zu Haus? Hm?
Ich meine, wer schaut denn diese Pay-TV-Kanäle, die nicht zufällig in jedem Hotel in mehrfacher Auswahl zur Verfügung stehen? Hm?
Was macht also wohl der Vertreter der HANDWERKskammer da am Vorabend seiner Tagung?
Zugegeben, auch in Doppelzimmern wird im Vergleich zu heimischen Schlafzimmern vermutlich überdurchschnittlich häufig fortgepflanzt, aber ein Call-Optionsschein auf den Mütze-Glatze-Index deutscher Hoteleinzelzimmer scheint mir eine geradezu todsichere Anlagestrategie zu sein.
Und denken sie bitte nicht länger darüber nach, wo der landläufige Einzelzimmerbewohner sich überall erleichtert haben könnte, wenn sie morgen noch ihren baren Fuß unbedarft in die Duschwanne der frischangemieteten Unterkunft setzen wollen.
Mein Jugendfreund Kettner meint ja, ich hätte einen Hygiene-Tick, aber was weiß Kettner schon von Kunst? (Bei dem soeben kurz unternommenen Versuch, mir vorzustellen, dass Kettner genau das tut, was Männer in Hoteleinzelzimmern tun, überkam mich übrigens der spontane Entschluss, Vegetarier zu werden und den Kriegsdienst zu verweigern. Aber das tut ihm womöglich Unrecht.)
Jedenfalls möchte ich bitte darüber hinaus auch nicht wissen, wie viele britische Geschäftsreisende hier schon nachts neben das Klosett gekübelt haben. Der Schmock sitzt halt überall. Wann hat hier wohl zuletzt einer ins Waschbecken gepinkelt? Ich meine, in dieses Waschbecken, in das mir vorhin versehentlich meine Kontaktlinse gefallen ist.
Mein Auge juckt plötzlich so.
Ich versuche mich abzulenken, indem ich mich frage, ob ich wohl die vorhandenen Zigarettenbrandlöcher in der Rückwand des Bettes durch hinzufügen einiger neuer zu einem hübschen Ornament vollenden könnte.
Und überlege, welche weiteren Spuren ich hinterlassen könnte. Sollen die Folgegäste doch ruhig auch ein bißchen leiden. Man könnte den ganzen Business-Heinis, die hier vor lauter pseudowichtigem W-Lan-Machen mitunter gar nicht zum Onanieren kommen, ein paar leckere Popel unter das Laptop-Tischchen schmieren. Auf dass ihre schlechtsitzende Anzughose beim nächsten Meeting ein paar Spuren echt linksrevolutionären Zellmaterials in die sterile Powerpointpräsentationsatmo strahlen kann.
Ob sich der Gast von letzter Nacht, also der vor mir, nach getaner Verrichtung wohl die Hände gewaschen hat, bevor er wieder zur Fernbedienung griff? Ja, diese Fernbedienung, die ich gerade in der Hand halte, um von BBC World auf DSF umzuschalten. Und was halte ich da eigentlich in meiner anderen...?
Puh, ein Bier –gerade noch mal gutgegangen.

Ich bin vulgär? Nein, ich bin bloß Chronist des Lebens. Und als Kriegsberichterstatter berichtet man nun Mal von der Front. Und dies war lediglich ein kurzes Vorzeigestück in embedded journalism im wahrsten Sinne des Wortes.
(Liebe Vorleseeltern: Ab hier dürfen sie wieder laut weiterlesen.)

Beim Alleinreisen hat man viel Zeit, Menschen zu beobachten. Dabei lässt sich prima so manches abgedroschene Klischee wahlweise veri- oder falsifizieren.

Klischee 1: Autofahrer bohren in der Nase, wenn sie an der roten Ampel stehen.
Befund: stimmt!

Klischee 2: Schwaben können alles, außer Hochdeutsch.
Befund: stimmt bezüglich Teil zwei der Aussage.
Natürlich habe ich keine Ahnung, was Schwaben so alles können, ich weiß ja noch nicht mal, ob man die Bewohner Freiburgs ungestraft als Schwaben deklarieren darf. Sagen wir: Südwestdeutsche. Alle Südwestdeutschen sprechen schwäbisch. Sie sagen zum Abschied „Tschüssle“, und wenn man beim Bäcker ein Brötchen verlangt, fragen sie freundlich zurück: „A Weckle?“ „Avec le quoi?“, könnte man kosmopolitan kontern, doch man kommt nicht dazu, da sich im Geiste gerade die oben aufgeworfene Frage des eventuellen Heiratens einer Einheimischen endgültig beantwortet hat: Neinle!

Klischee 3: Männer interessieren sich für Eisenbahnen.
Befund: siehe oben,
bzw. siehe bei Andreas Dorau („Ich will Lokomotivführer werden, er will Lokomotivführer werden, (...) tuut tuut, tuut tuut.“)

Klischee 4: Frauen interessieren sich für Hochzeitsfrisuren, Eiskrem und Schuhe.
Befund: Behavioristischer Fehlschluss!
Frauen beschäftigen sich mit solchen Sachen, aber interessieren tun sich Frauen im allgemeinen für gar nichts.

Klischee 5: Frauen gehen, wenn möglich, mit einer dickeren oder häßlicheren Freundin aus.
Befund: Ich bin unsicher.
In Freiburg gibt es, wie erwähnt, unterdurchschnittlich viele wirklich häßliche Wesen. Müsste man noch Mal woanders recherchieren.

Klischee 6: Männer trinken zu viel.
Befund: no comment!

Klischee 7: Frauen sind multi-tasking-fähiger als Männer
Befund: Scheint so.
Über Klischees dieser Art müssen sich ja heutzutage sogar die Vertreter der ach so hippen Hirnforschung auslassen, denn mit sowas kommt man in die Zeitung, und das ist gut für den Fluss der ersehnten Fördergelder. Also heißt es, dass bei Frauen irgendwie die beiden Hirnhälften synaptisch besser kommunizieren können und so. Das einzige, was ich weiß, ist, dass ich Arbeit im Großraumbüro furchtbar anstrengend finde, ob der ständigen Ablenkungen durch andere Mitarbeiter, deren Telefonate und auch deren Gespräche untereinander. Ich habe unter solchen Umständen ein klares Konzentrationsproblem. Meinen weiblichen Kolleginnen scheint das nichts auszumachen. Im Gegenteil, ich glaube, sie finden die beiläufige Unterhaltung angenehm und sind eher durch zu große Ruhe aus derselben zu bringen. Viele sind sogar der Meinung, man solle doch nebenbei Radio hören, was für mich aus unterschiedlichsten Gründen eine schiere Horrorvorstellung ist. Vielleicht liegt es aber eher daran, dass männliche Wesen zu sehr dazu neigen, stets den Sinn ihres Tuns aufwendig zu hinterfragen, während die Girls durchaus in der Lage sind, ihnen gestellte Aufgaben, auch offensichtlich schwachsinnige, einfach mal eben schnell zu erledigen.

Klischee 8: Frauen können rechts und links nicht unterscheiden.
Befund: Humbug, aber!
Auch so etwas lässt sich natürlich nicht wirklich durch bloßes Beobachten von Passanten feststellen. Hier muss mal wieder der prallgefüllte Sack an eigener Lebenserfahrung herhalten, und der sagt: Tatsächlich kenne ich mehrere weibliche Personen, die ein Problem mit der Verwechslung von rechts und links haben. Allerdings ist dies nur ein Teilaspekt des viel erstaunlicheren Phänomens der haarsträubenden Orientierungslosigkeit vieler Menschen, und diese trifft man bei Männern wie bei Frauen gleicher- und erschreckendermaßen häufig an. Ich kenne mehr als eine Handvoll Leute, die selbst in ihrer eigenen Stadt nicht den Weg von einem Stadtteil in den nächsten finden, ohne eine niedergeschriebene, detaillierte Wegbeschreibung mitzubekommen, und für die die Erfindung des „Autopilots“ eine durchaus segensreiche Erfindung darstellt. Doch wehe, wenn die Verkehrsführung kurzfristig oder übergangsweise geändert wurde.
Ich wohnte einst in einer WG, die etwa zweihundert Meter vom örtlichen Bahnhof entfernt lag (Männer und Eisenbahnen siehe oben), und ein Mitbewohner (männlich) hat auf die Frage, wo denn der Bahnhof sei, im Wohnzimmer stehend, tatsächlich in die diametral entgegengesetzte Richtung gezeigt. So etwas ist mir völlig unverständlich, aber vielleicht ist Orientierung-Haben ja tatsächlich ein seltener Segen, und ich sollte dem Schöpfer einmal kurz für etwas dankbar sein.

Klischee 9 ist (noch) gar keins, soll ihnen aber noch als kleine Anregung mit auf den Weg gegeben werden: Männer lassen die Klotür auf, wenn sie mit der Verrichtung durch sind.
So behauptet jedenfalls eine mir bekannte Ladenbesitzerin. Die Kundentoilette in besagtem Etablissement grenzt direkt an den Verkaufsraum (es grenzt also, haha, "Geschäfts"raum an Geschäftsraum), und neun von zehn Männern lassen nach Verlassen des Aborts die Tür offen. Alle Frauen hingegen machen die Tür zu.
Angeblich trifft diese Verhaltenskonstante sowohl auf fünfjährige Kinder als auch auf Erwachsenen jeden Alters zu. Achten sie bitte beim nächsten Partybesuch mal darauf. Auf Feiern in Privatwohnungen müsste sich so etwas ja vortrefflich beobachten lassen. Mir ist derlei noch nie aufgefallen, auch noch nie berichtet worden, und ich selbst bin jedenfalls der eine von den Zehn.

So, nun aber genug der verlegerfreundlichen, oberflächlichen Salbaderei. Sie haben wohl schon gemerkt: zuletzt wurde es eher theoretisch und verließ den eingeschlagenen Pfad des empirischen Studiums dieser liebenswerten, knuddeligen, kleinen Südwestdeutschen, die hier omnipräsent um mich herumwuseln und -schwäbeln.
Ich fasse kurz zusammen, was ich ihnen heute eigentlich bloß mitteilen wollte: Ich liebe Freiburg. Manchmal will das Leben „einen ausgeben“ (Seed), und hier scheint mir genau der richtige Ort dafür. Es ist endlich Sommer, und was in den Folgetagen im angrenzenden Schwarzwald passiert, lesen sie vermutlich schon bald in der nächsten Kolumne.
Ich weiß, „there’s a little too much love on this album“ (N. Gallagher), aber es sollte ja hier mal menscheln.

Ihr Peter Hahne.
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Beitrag von lenin »

Von Reden ganz zu schweigen
Lenin hat Zahnschmerzen


Na? Gut ins neue Jahr gestartet? Etwa so gut wie ich?
Silvesterparty: Gegen zwei Uhr nachts verlor ich ein Stück Zahnfüllung.
Das machte sich zwar sogleich unangenehm bemerkbar, wusste sein volles Zerstörungspotenzial allerdings bei weitem noch nicht abzurufen. Hatte ich doch wohlweislich vorgesorgt, und dem Körper reichlich schmerzlindernde Substanzen gegönnt. Süss vermochte der Absinth das wurmige Stechen im Mundraum mit einer wohligen körperlichen Schwerelosigkeit zu verbrämen, und erst am nächsten Tag war das Gejaule groß.
Wiederum nicht etwa aufgrund der dentalen Misslichkeit, sondern ob des ausgewachsenen, kralligen Katers, der meinen tüv-überfälligen Körper sardonisch und genussvoll quälte. Wie grauenvoll derlei post-alkoholische Traumata im Alter sich zu gebärden pflegen, hatte ich ihnen ja bereits an anderer Stelle geschildert (siehe „Ich alter Ego“). Auch die, in den Worten Jürgen Roths gesprochen, strenge „somatische Down-Force-Dynamik“ war keineswegs zu verachten. Doch erst als mit dem Kater endlich auch der Restalkohol exkommuniziert ward, trat das eigentliche Übel in den Vordergrund:
ein megalomaner Zahnschmerz, wie er in solch perfider Form bislang nur in den Verhörzimmern des KGB bekannt war; eine dentale Pest, die im Mittelalter das Aufkommen der Städte (Motto: Feinstaub macht frei) ernsthaft in Frage gestellt hätte; ein Horror-Script, für dessen Hauptrolle Dustin Hoffmann statt meiner eine weitaus gelungenere Besetzung gewesen wäre.

Der konsultierte Zahnarzt erkannte mit dem geschulten Auge des Mediziners sofort meine Schwäche für Betäubungsmittel jeglicher Couleur, und also spritzte er tief und leidenschaftlich. Den solcherart herbeigeführten Zustand meines Körpers bezeichnen Medizinbücher als „Schlaganfall mit halbseitiger Lähmung“. So verbrachte ich den Rest von „Day 2“ (Readymade) dieses wunderschönen Jahres in mutterkomplex-evozierender Teilbehinderung, nicht fähig die einfachsten menschlichen Bedürfnisse wie Essen oder Trinken zu befriedigen, von Reden ganz zu schweigen.
Nebenbei nahm ich noch die beruhigende Stellungnahme des Onkel Doktors mit auf den Weg, er habe nicht füllen können, es habe zu sehr geblutet (sic!), da wäre jetzt ein schmerzstillendes Antibiotikum drin, und man würde sich in drei Wochen der Sache dann richtig annehmen.
Meine Vorfreude auf dieses „richtige“ Annehmen können sie sich ausmalen. Sie wurde allerdings am Folgetag erheblich getrübt; nämlich durch die Tatsache, dass der Schmerz sich mit der Renitenz, die man der heutigen Jugend so gerne abspricht, ums Verrecken nicht einfach so mir nichts dir nichts aus dem Staub machen wollte. Im Gegenteil, es wurde immer noch schlimmer. Nun, wir Homo Faber wissen freilich: die Ärzte haben alles unter Kontrolle. Trotzdem klopfte ich am Nachmittag mal in der Praxis an, und frug, ob es denn gänzlich normal sei, vierundzwanzig Stunden nach der Operation stärkere Schmerzen zu haben als je zuvor. Der Arzt war sehr verständnisvoll und verordnete erneut Antibiotika, diesmal in Tablettenform.
Ehrlich gesagt, ich mag keine Antibiotika. Sie stören die Einnahme von Alkohol und ich vertraue ihnen nicht ausreichend. Der Schmerz jedoch sagte: „Geh‘ und pfeif‘ dir die Dinger rein!“ Ich pfiff, und die Lektüre der Packungsbeilage stärkte mein Vertrauen in die Harmlosigkeit des Produkts: „Häufig treten allergische Hautreaktionen wie Ausschlag, Juckreiz, Nesselsucht mit Bläschen- und Quaddelbildung (urtikarielles Exanthem) auf. Außerdem können Hautrötungen mit Hitzegefühl (Rash), masernähnliche Ausschläge, Schwellungen im Kopf-Hals-Bereich (z.B. Quincke-Ödem), und andere schwere Hautreaktionen auftreten.“
Kein Problem. Schwellungen im Kopf-Hals-Bereich hatte ich ja schon durch den Zahnschmerz, und über Rash wusste ich zumindest, dass das Hören von Liedern der Gruppe Rush durchaus zu Nesselsucht mit Quaddelbildung führen kann. Aber Obacht:
„Selten kann es zur Ausbildung einer schwarzen Haarzunge kommen“.
Oha! Das machte mich sehr neugierig. Andererseits: wer jemals mit herausgestreckter schwarzer Haarzunge durch die Bronx lief, weiß ein Lied („Candy Shop“) davon zu singen, dass man in gewissen Kreisen nicht so gerne den Jokus nimmt. Peng, hat man unversehens eine Kugel in der Zunge.

Aber was hatte ich eigentlich erwartet – die Spatzen pfeifen es seit Jahren von den Dächern, dass Silvester im Grunde ein Scheißfest ist.
Es gibt vier gute Gründe, Silvester doof zu finden.
Erstens steht es am Ende einer zumeist recht beschaulichen Zeit, die für die meisten so um den 23. Dezember herum beginnt. Einer Zeit des Frei-Habens, Alte-Freunde-Treffens, der Weingelage und süßen Umarmungen der Freundinnen der besten Freunde. Silvester läutet also nicht etwa etwas vielversprechendes ein, sondern es markiert den Abschluss der einzig schönen Woche, die der deutsche Winter im Angebot hat.
Zweitens: das kindische und nervtötende Geböller. Designt wurde das animalische Rumgeknalle für osmanische Kinder bis zum Alter von siebeneinhalb, und jeder Mensch der dieses Lebensalter überschritten hat, lässt tunlichst die Hände davon (wenngleich sich auch einige andere Beschäftigungen und Konsumgüter, die voll und ganz auf die Bedürfnisse von Minderjährigen zugeschnitten sind – man denke etwa an Fernsehen oder Mobiltelefone – einer erstaunlichen Beliebtheit auch bei sogenannten Erwachsenen erfreuen).
Drittens ist am Tag nach Silvester Neujahr. Und Neujahr ist ja nun mal sowas von die Mutter aller Aschermittwoche dieser Welt, dass jeder, der an diesem Tag nicht von einer kryptonihilistischen Totaldepression befallen wird, entweder noch auf Pille ist, oder gerade Flitterwochen auf den Kanaren macht.
Viertens und fünftens fallen mir gerade nicht ein. Viertens, weil ich mich aufgrund von starkem Zahnschmerz nicht konzentrieren kann, und fünftens, weil es ja, wie erwähnt, nur vier gute Gründe gibt.

Ich kenne allerdings auch einen Silvester-Befürworter. Ich spreche von meinem Freund Torsten, genannt „Ohneha“, einem sympathischen Intellektuellen, ex-Philosophie- und Politikstudent, der aufgrund widriger Umstände (dreimal zu oft „ja“ gesagt), inzwischen über Ehefrau, Kind und Reihenhaus verfügt, und darum tagein tagaus sein Geld im Dienste des Klassenfeinds mehr als sauer zu verdienen verdammt ist. Ohneha arbeitet bei der FPB (Fascist Pig Bank Intern. Ltd.) und er leidet darunter wie ein kranker Hund.
Ohnehas Rede ist im allgemeinen geprägt von glutvollem Hass auf alles „christliche“, „ökonomisch sinnvolle“ und den eigenen Vater. Ein wirklich toller Mensch eben. Und er meint, Silvester wäre doch prima, denn es sei die einzige heidnische Enklave in diesem Meer aus kirchlichen Feiertagen, denen wir uns das ganze Jahr über hemmungsvoll hingeben. Also solle man böllern und ehebrechen, was das Zeug hält, schließlich mache man den ganzen religiösen Weihnachtsquatsch ja auch mit.
Vermutlich hält das Argument näherer Recherche nicht stand (ich tippe mal auf heidnische Ursprünge auch der großen christlichen Feste), aber da können sie sich ja mal selber eine Meinung zu ausdenken. Ich finde Silvester weiterhin doof.
Und ich habe Zahnschmerzen. Einen Tag später war nämlich spätestens klar: hier hilft kein Antibiotikum und kein Ideal des starken Mannes – es war noch ein weiterer Zahn im Arsch. Also begab ich mich am dritten Werktag des Jahres zum dritten Mal zum Zahnarzt. Ich überlegte, ob ich nicht langsam ein Auge auf eine der Sprechstundenhilfen werfen sollte, und ob wir mittlerweile vielleicht per du sind, der Doktor und ich, doch als ich erneut auf dem Folterstuhl saß, fühlte ich mich vielmehr endgültig perdu (ein einzigartiges Wortspiel, welches sich allerdings nur dem polyglotten Leser/Verleger in seiner ganzen lyrischen Kraft entfalten kann). Und als mir das Mundausspülwasser unkontrolliert übers Kinn troff, legte ich auch die Avancen auf die Praxismädels vorerst ad acta.

Was tun, wenn man tagelang ob einer Gesichtslähmung an den heimischen Sessel gefesselt ist? Wie wär’s mit ein paar Jahrescharts 2005?
Auf Nummer Eins meiner persönlichen Partneranzeigenhitparade 2005 landete folgendes „Sie sucht“-Inserat aus der ZEIT:
„Ffm: Medizinerin, 54, gutaussehend, polyglott, möchte einen Mann kennenlernen, der beim Gang durch den Zoo es lachend versteht, wenn sie sagt: Wie deprimierend – kein Panther versteht hier Rilke!“
Heureka, ja wer da mitlachen und mitverstehen könnte... Andererseits wäre so eine Medizinerin mit zunehmendem Alter vielleicht gar nicht so unpraktisch. Frankfurt passt gut, und das Wort polyglott habe ich hier in dieser Kolumne, glaub‘ ich, auch schon irgendwo gelesen.
Jahressieger in der beliebten Disziplin „beste Buchrezension 2005“ ist ein gewisser Robert Leicht, der im Oktober in einer ZEIT-Literaturbeilage die Max-Weber-Biographie eines Herrn Radkau besprach. Bekanntlich hat Weber gerade in jungen Jahren die ein oder andere Psychokrise durchlebt, derer sich der Biograph pflichtbewusst annimmt, und also folglich auch dessen Rezensent. An der schönsten Stelle wie folgt:
„(D)iese erste Periode ist (...) obsessiv bestimmt durch die sexuell unerfüllte, angeblich nie vollzogene Ehe mit Marianne Weber, durch seine Impotenz, auch durch masochistische Neigungen Webers – die gleichwohl einhergehen mit ständigen nächtlichen Pollutionen, die Weber wiederum als extreme Schwächung seiner Schaffenskraft erfährt. Schlimm genug, dass Marianne Weber darüber, hinter Webers Rücken, ständig in ungezählten Briefen an Webers Mutter berichtete und damit das einschlägige Quellenmaterial für diese Biographie liefert – eine sonderliche Tatsache, die einen das indische Institut der Witwenverbrennung doch mit einer gewissen, politisch natürlich völlig unkorrekten, Nachdenklichkeit betrachten lässt.“
Wenn der gute, alte Max mal selbst von Sexualität sprach, dann klang das im übrigen typischerweise so: „Auch Sexualgewalten zwar finden sich gelegentlich ‚kommunistisch‘ (polyandrisch). Aber wo sie vorkommen, stellen diese polyandrisch geteilten Rechte in allen bekannten Fälle nur einen relativen Kommunismus dar: einen nach außen exklusiven Mitbesitz eines bestimmt begrenzten Personenkreises (Brüder oder Insassen eines ‚Männerhauses‘) kraft gemeinsamen Erwerbs einer Frau.“ [Wirtschaft und Gesellschaft, zweiter Teil, Kapitel drei, S. 282f.]
Nun, Rock’n’Roll ain’t Webers pollution, sicherlich, aber die arme Marianne hätte ja auch einen anderen heiraten können.

Kommen wir jetzt noch zur Rubrik „bestes Wort zur Lage der Nation“ aus 2005:
Eine Bekannte arbeitet als Lehrerin an einer Schule für „schwer erziehbare Kinder“. Sie kommt viel rum, speziell in die entsprechenden Elternhäuser, und weiß daher z.B. zu berichten, dass es in Deutschland eine Menge Haushalte gibt, die zwar über sehr viele Katzen und sehr viele Aschenbecher verfügen, aber über sehr wenige oder keine Möbel. Neulich bot sie einem dreizehnjährigen Schüler, nach dem Nachmittagsunterricht, draußen war’s schon dunkel, an, ihn nach Hause zu fahren. Der Schüler zögerte. Er sei nicht sicher, ob jemand zu Hause ist, und er habe keinen Schlüssel. Sie überredete ihn, es einfach zu versuchen. Während der Fahrt wies der Schüler noch mehrmals darauf hin, dass er aber gar nicht wisse, ob denn jemand da sei. Als das Auto schließlich in die richtige Straße einbog, erkannte die Lehrerin sofort, dass im ganzen Haus Licht brannte.
- Siehst du? Es ist doch alles in Ordnung. Es ist jemand da.
- Nee, das hat nix zu sagen. Mein Bruder hat im Radio so’n Einjahres-Stromabo gewonnen, und deshalb brennt bei uns jetzt immer Licht.
Ich denke, treffender vermochte das wortgewaltigste, kulturkritische Feuilleton nicht, den geistig-moralischen Zustand dieser Republik im Jahre 2005 auf den Punkt zu bringen. Und ein schlüssigeres „deshalb“ soll mir erst Mal jemand servieren. Die Eltern sind halt mittags um fünf schon in der Kneipe (bis sieben ist Happy-Hour), der Bruder weilt vermutlich gerade im besten Media-Markt aller Zeiten, aber dass Geiz geil ist, versteht man eben auch, wenn man mit dreizehn noch nicht lesen kann. Und obzwar Adorno schon ganz gut erklärt hat, warum dieser olle, die Menschen zerfleischende, geistlose Kapitalismus immer noch so reibungslos funktioniert: ein Blick auf Volkes Maul reicht mitunter für’s grobe Verständnis völlig aus. Wenn sie selbst manchmal denken, sie hätten einen etwas zu geringen Teil des großen Kuchens abbekommen, dann vergleichen sie halt mal Handy-Tarife oder wechseln die Krankenkasse.

Zum Abschluss verleihe ich noch zwei Negativ-Awards in Sachen Musik 2005. Im alljährlich mit Spannung erwarteten SchusterbleibbeideinenLeisten-Missachtungs-Contest gibt es nämlich heuer gleich zwei Sieger zu küren.
Zum einen wurde der aurale Affront prämiert, dass Mister Fred Durst (was für ein Nachname!) seit neuestem auf Tonträgern versucht zu singen. Bekanntlich waren die Meinungen zu Limp Bizkit schon seit jeher troubadixoid gespalten, aber mir geht es hier gar nicht um die Band, sondern um die bloße Tatsache, dass ich tatsächlich noch nie, auch nicht in meinem persönlichen Bekanntenkreis, jemanden getroffen habe, dessen Intonationsvermögen sich derart strikt an die Heisenbergsche Unschärferelation bindet.
Und das wohlgemerkt nach der Zuhilfenahme all der computertechnischen Mogelmöglichkeiten, die heutzutage einer Tonstudioproduktion dieser Budgetklasse zur Verfügung stehen. Wenn man sich so schauderhaft von der Natur unbegütert dann auch noch an Klassikern wie „Behind Blue Eyes“ oder „Bittersweet Symphony“ vergeht, dann bleibt es folgerichtig nicht aus, dass unbedarfte Radiohörer wie Herr Lenin als hochkariöse Kollateralschäden zurückbleiben (ohne Einjahres-Stromabo, mind you), die die Folgen dieses Schreckens noch tagelang ins neue Jahr schleppen müssen.
Dass andererseits auch geschultes Stimmvermögen nicht davor feit, furchtbare Musik zu produzieren, dafür sei zu schlechter Letzt jene Dame namens Shakira mit ihrem Lied „Don’t bother“ ins Feld geführt. Wenn ausgewiesene Nicht-Rocker auch mal rocken wollen. Beim Hören des Songs erfährt man ein akut urtikarielles Exanthem in Tateinheit mit Quincke-Ödemen und Rash-Rush-Quaddeln, die sich bis in die entlegensten Winkel ordentlich gewaschen haben. Argumentieren sie mir jetzt bitte nicht mit potenziellen, Shakira-inspirierten, nächtlichen Pollutionen á la Max Weber. Es hilft nichts – Musik wird immer noch gehört, mit den Ohren, und hätte Shakira schon einen verstorbenen Ehemann hinterlassen, könnte man tatsächlich die alte indische Institution der Witwenverbrennung, wenngleich politisch gänzlich unkorrekt, noch ein mal in neuem Licht...

Beenden wir darum unsere heutige Sitzung mit den Worten des göttlichen Morrissey:
„I always wanted to be a librarian. To me it seemed the perfect life:
solitude, absolute silence.“
Keine schlechte Musik.
Keine Bohrer- und Speichelabsaugergeräusche.
Keine schreiende Schnäppchenpreise-Werbung.
Man kann ihn verstehen. Und verstehen.
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MariaTequila bängbängbäng
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Beitrag von MariaTequila bängbängbäng »

Mensch Uljanow, Sie alter Laberkopp, nun habe ich hier tatsächlich beim Mitfühlen Ihrer dentalen Torturen den Feierabend verpasst! Da schreib ich mir doch gleich ´ne halbe Überstunde und Ihnen klicke ich sofort eine Posting-Bewertung an. Danke. Ich hoffe, Ihre Zähne klappern wieder ungedämpft und frei? Sonst können Sie ja das herrschende Wetter gar nicht recht genießen...
Unter Bewußtsein, das muß kein Verlust sein!
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lenin
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Beitrag von lenin »

Schön, Frau Bängbäng, dass ich außer Herrn Malimarc noch weitere Leser habe. Und obschon sie mich ja gar nicht wirklich gelobt haben, möchte ich doch aus dem Stand zurückloben und bekennen, dass ihr Arbeitsbericht aus der Ostzoll-Pakete-Entpackungsabteilung mit den vom Klassenfeind hintertückisch als „Gift“ deklarierten Wurfsendungen m.E. einer der schönsten Forumsbeiträge des vergangenen Jahres war.
Hiermit geschehen.
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