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Weltalltag-Man
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Die aktuelle TV Kritik

Beitrag von Weltalltag-Man »

10 Jahre „Unser Charly“ im ZDF

Charly, der quirlige Schimpanse, ist jeden Samstagabend der Star im ZDF, der die Familie um Tierarzt Dr. Henning immer so schön durcheinander bringt. Auch in der neuen Staffel gibt es wieder genug der Tier- und Familienprobleme, die - nicht zuletzt dank Charly - zu lösen sind.
Bild
Dass Charly von ganz verschiedenen Schimpansen gespielt wird, weiß inzwischen jedes Kind. Tiertrainer wählen unter den von der Mutter abgelehnten Schimpansen immer wieder die geeigneten aus, um sie danach vorsichtig an die Scheinwerfer zu gewöhnen. Der Vorhang wird behutsam aufgezogen, dahinter ein schmetterndes Blitzlichtgewitter: die Sensation ist perfekt! Auf der Bühne öffnet Charly Spülmaschinen, Kofferräume, Kinderzimmertüren, apportiert Softbälle, Kaffeegeschirr, Blumensträusse, auch der General zeigt sich sehr zufrieden.

Plötzlich das Krachen massiver Eisenketten, rasselnd fallen sie aufs Parkett, Aufruhr im Publikum. Schnell raus auf die rauschende Straße, ein Bürogebäude hoch, mit oder ohne Frau, das ist jetzt nicht wichtig und dann natürlich sofort lauter kleine Flugzeuge, die summend das Hochhaus umkreisen und Charly die ersten Schüsse auf den Pelz brennen, heiße Nadelstiche, vielleicht spielen sie auch den Walkürenritt. Charly lamentiert daraufhin herum, zeigt sich etwas unzufrieden mit der Gesamtsituation, er scheint da ein bißchen zuviel Lippenstift zu tragen und die schwarzen Strapse, naja.

Aber nichts zu machen, Skript ist Skript, Werner Herzog wirft ihm jetzt Softbälle zu und die Strahlenkanonen sind schließlich auch schon bezahlt worden. Mittlerweile suppt Charly das Kajal schwarz die Wangen hinab, schluchzend zieht er sich mit letzten Kräften hoch, etwas affig sieht er ja schon aus, dann ist aber auch bald Schluß, nicht wahr, ein letzter Strahlenblitz und Charly knickt mitsamt dem papierenen Turm ein, stürzt ins Basin, es platscht, aufbrandender Beifall, und nach getaner Arbeit werden die Schimpansen dann in die Familie zurückgeführt. "Unser Charly" wird mittlerweile in 20 Ländern gesehen, der Marktanteil der ZDF-Samstagsserie beträgt hierzulande regelmäßig 18 bis 20 Prozent.
Gast

Re: Ich Roque

Beitrag von Gast »

lenin hat geschrieben:Ich Roque
Ein Reisebericht

Lenin ist Pauschaltourist. Neulich war ich auf Mallorca und jetzt gerade auf Gran Canaria.
Wenn Menschen auf einer dieser Inseln waren, und, wieder zu Hause, nach ihrem Urlaubziel befragt werden, so sagen sie:
„(kleinlaut) Mallorca. (lauter) Aber im Norden! Wandern!“
oder
„Teneriffa, nich in sohm Ferjenbunker, sondern die ham da auch total schöne Ecken.“
Und ähnliches.
Mir scheint eine pathologische Struktur genuin deutscher Prägung vorzuliegen, ich nenne sie den Ballermann-Komplex.
Offenbar fordert die Gesellschaft den Menschen eine Entschuldigung dafür ab, dass sie sich in ein Land begeben, in dem das Wetter und die Landschaft tausendmal schöner sind als hier, in dem es Traumsandstrände gibt und malerisch blaues Meer.
Ich finde das absurd.
Ich kann mir fürwahr fast nichts schöneres vorstellen, als auf einer paradiesischen Insel bei paradiesischem Wetter eine Woche lang mit einer Hand voll guter Freunde nichts zu tun, aber auch rein gar nichts, außer sich einem konstant sanft-säuselnden Alkoholrausch in Tateinheit mit Völlerei und Nikotinabusus hinzugeben, en passant zwei, drei gebrochene Mädchenherzen zurückzulassen, und kein Hotelbunker und keine überdimensionierte Einkaufsmeile und keine noch so billige Diskothek werden mir solch üppiges Plaisir auch nur ansatzweise trüben können. Lieber einen Monat El Arenal als einen Tag fremdbestimmt arbeiten, hugh!

Allein, ich kann mir eben nur fast nichts schöneres vorstellen.
Denn, äh, das ist argumentationstrategisch jetzt an dieser Stelle ein bißchen ungünstig, aber es verhält sich so, dass auch ich die Inseln hauptsächlich zum Wandern bereise.
Wandern? werden sie vielleicht fragen, ist das nicht so ne Rentnerbeschäftigung? Ein Leben lang negativ konnotiert, weil man als kleines Kind, dem Elternzwange hilflos ausgeliefert, sonntägliche Ausflüge ins öde spielzeugfreie Gebäum über sich ergehen lassen musste?
Ich versuche zu erklären:
Also erstens: Als Großstädter und Raucher verspüre ich einen natürlichen Drang nach frischer Luft, wirklich frischer Luft, Waldluft. Der Konsum ebenjener führt beim rauchenden Großstädter zu einem mittleren Rauschzustand (el ilusión). Kombiniert mit dem zusätzlichen Dopaminausstoß, hervorgerufen durch sportliche Betätigung, erfährt man eine äußerst angenehme sauerstoffinduzierte Dröhnung. O2 can do, sozusagen.
Zweitens ist das mit dem Meer so eine Sache. Obschon der Reiz sommerlicher Sonnenauf- und untergänge am Gestade des blauen Ozeans nur schwer zu leugnen ist, möchte ich doch nicht unbedingt den ganzen Tag (el día) oder gar den ganzen Urlaub (el farino) am Strand verbringen. Das Meer hat so seine Zicken: Kleinkinder und Frauen pinkeln rein, es ist salzig und enthält Quallen, Quitten, Gilf und Gabber, leere Getränkedosen und abgelöste Heftpflaster, die eben noch juckende Ekzeme schweißfüßiger sächsischer Grundschüler bedeckten. Sowas bekommt man ungern ins Gesicht gespült.
Zum Dritten: Beim Wandern gibt’s mittags Stullen. Ich liebe Stullen.
Viertens (mit erstens verwandt) habe ich einen Landschaftstick. Also, eine schöne Landschaft, ein herrlicher Blick, das Sich-Befinden in Restbeständen offenbar noch funktionierender, halbwegs unberührter Natur, nicht umgeben von einem Bleckkäfig, sondern live und in Farbe; solche Sachen sorgen bei mir für wohltuende, den ganzen Körper durchwirkende ästhetische Befriedigung, wiederum verbunden mit starker endorphinöser Flutung der Großhirnrinde, wie man sie von Achterbahnfahren und Fellatio kennt.
Offenbar bin ich eine Art Emo-Öko. Erwiese ich meinem Namen endlich mal eine Ehre und träte eine Revolution los, dann würde ich ein bißchen beim Kollegen Mao abkupfern und die Leute zunächst auf einen langen Marsch schicken. Denn ich glaube, wer die Natur kennen lernt, der wird sie auch lieben lernen, und vielleicht auch mehr gegen ihre Zerstörung tun. Nebenbei könnte ich noch ein Buch rausbringen (Arbeitstitel: „Der lange Marsch zu mir selbst“); als Revoluzzer kommt es ja immer ganz gut, wenn man auch irgendeinen Schinken geschrieben hat, wo so die Basics drinstehen, damit das Volk eine Richtschnur hat und in späteren Generationen unterschiedliche Exegetenschulen entstehen, die sich in halbnoblen, rauchgeschwängerten Debattierclubs bei Pfeife und Rotwein (vino tinto) bis aufs Messer zerstreiten.

Pauschaltourismus geht so: Wenn das Flugzeug landet, fangen ca. 75% der Mitreisenden an zu klatschen. Dies ist natürlich eine typisch deutsche Grille, und deshalb machen die anderen 25% viel zu laut „Ts ts“ gepaart mit einem total übertriebenen Kopfschütteln, um dem Rest der Welt zu zeigen, dass sie geistig auf metropolitanem Parkett zu Hause sind. Der Rest der Welt ist aber gar nicht mit im Flieger. Ich finde, man könnte das Klatschen als Würdigung einer gelungenen Pilotenleistung akzeptieren, wenn gleichzeitig Buh-Rufe und Pfiffe bei den überflüssigen, nervtötenden Pilotendurchsagen während des Fluges eingeführt würden.

Mallorca ist eher eine Notlösung (last-minute, preiswert und so). Zwar spricht nahezu jeder fließend Deutsch, Englisch und Esperanto, aber die Landessprache, eine Art katalanisch, ist sonderbar. Die Orte tragen Namen wie Cap Ferrutx (= meine Mütze sitzt schief), das sieht zwar ganz lustig aus, hört sich aber doof an.
Die Kanaren sind viel schöner. Hier sprechen die wenigen Einheimischen Spanisch, allerdings ohne die schwierigen Sachen, also das elende Gelispel und so.
Ganz wichtig: Man bleibt von lästigen Insekten verschont. Ausnahme sind natürlich die berühmten Schaben (las cucarachas), die eine stattliche Größe erreichen, derer es aber längst nicht so viele gibt, wie immer alle denken.
Laut Reiseführer gibt es auch keinerlei Raubtiere. Dies ist allerdings nur im Prinzip richtig. Dem Wanderer auf den Kanaren bieten sich nämlich im groben zwei Alternativ-Szenarien: entweder er stürzt irgendwann in eine der unzähligen tiefen Schluchten (los barrancos), oder er wird von einem räudigen Dorfköter (el perro mangino) zerfleischt. Der durchschnittliche kanarische Bergdorfbewohner (el mongo) verfügt über fünf bis siebzehn vierbeinige Bestien, die sein windschiefes Häuschen incl. müllübersätem Vorgarten durchaus pflichtbewusst bewachen. Sobald man aber besiedeltes Gebiet verlässt, hat man tatsächlich aus dem Tierreich nichts mehr zu befürchten. Allerdings wird einem auch ganztägig keine Menschenseele mehr begegnen. Die ganzen deutschen Touristen, die alle „in den Norden“ und „weil man da so toll wandern kann“ kamen, sind grundsätzlich grade unpässlich.
Ausnahmen finden sich an den ein, zwei wirklichen Must-Gos, die in jedem Reiseführer stehen, und die man auch mehr oder weniger bequem per Auto/Reisebus erreichen kann. Auf Gran Canaria ist das der Roque Nublo. Am Gipfel eingetroffen (Lenin in prominenter Begleitung der amtierenden hessischen Stullenkönigin) trafen wir tatsächlich auf vier Deutsche im typischen Pauschaltouristenalter zwischen 60 und scheintot. Der Roque ist ein Prachtkerl von einem Fels und die Aussicht ist atemberaubend. Gerne beobachte ich, was die Menschen so treiben, wenn sie eigentlich, vor der Schönheit von Mutter Natur ehrfurchtsvoll erstarrt, stiller Kontemplation sich hinzugeben berufen wären. Die vier schauten und picknickten. Dazu in tiefstem Rheinisch folgender Dialog:
- Nä, also der Hiddler, das war schon schlimm.
- Na ja, aber der Stalin. Das war auch’n Verbrecher.
- Joh. Aba der Hiddler, du.
- Joh. Aba der hatte ja auch ne Menge Hintermänner!
Ach so.
(nur wenige wissen, dass der beliebte Fußballer-Zuruf „Vorsicht Hintermann!“ aus dem dritten Reich stammt)
Darüber reden die Menschen also, wenn sie sich gerade an einem der schönsten Orte der Welt befinden. Ein Freund berichtete mir von einer überwältigenden Wanderung am Klippenrand des Grand Canyon, während derer sein Begleiter einen einstündigen Monolog über die derzeit günstigsten Handytarife hielt. Das Ignoranzpotenzial der Menschen ist groß und stets frappierend. Mein diesbezügliches Unverständnis äußerte ich dann wohl auch am Gipfel des Roque, nach dem Belauschen der Rheinländer. Die Stullenkönigin pflichtete mir bei („ja, schrecklich“), zückte anschließend ihr Mobiltelefon und stöhnte: „Das gibts doch nich‘, ich hab‘ schon wieder zwei Ess-emm-esse!“

Mir schwant, dass mein Entwurf des revolutionsvorbereitenden langen Marschs vielleicht doch etwas zu optimistisch gedacht war. Vermutlich läuft‘s eher so:
Die wenigen Pfundstypen, die ich mit im Tross habe, Paraderevolutionäre Cheschen Zuschnitts, werden nach ein paar Tagen unruhig; sie wollen kämpfen, nicht wandern. Der große Rest palavert den ganzen Tag über TV-Sitcoms und die neuesten Schnäppchenpreise, und schon bald verfallen sie gänzlich konterrevolutionären Ideen da draußen, und vergleichen Testberichte von Geländefahrzeugen und MotoCross-Maschinen. Ich muss täglich härter durchgreifen, ständig irgendwen liquidieren, zunächst halboffiziell, später erste Schauprozesse, missmutiges Murren hinter vorgehaltener Hand („ein Tyrann!“) setzt ein, schleichende Abjudikation meines Commandante-Status schlägt um in offene Aufruhr. Sie tun mir nicht wirklich was, binden mich bloß an einen Baum („jetzt kannst du deinen ollen Wald genießen, so lange du willst!“). Die neugewählte Führung tagt fortan in einem McDonalds Drive-In an einer Autobahnraststätte. Ich überlebe, da ich von einer Gruppe off-road-enduro-begeisterter Motorradfahrer bei einer ups-gesteuerten nächtlichen Gotcha-Jagd gefunden werde. Zunächst hänseln mich meine Befreier ein bißchen, bevor sie mich kurzerhand zu ihrem neuen Maskottchen erklären: „Du Roque!“

Tja, normál, wie der Spanier wohl sagen würde.
Normál ist eine der wichtigsten Vokabeln, die man als Kanarenurlauber beherrschen sollte, und ihre Bedeutung ist vielfältig wie die vom Versagen der Geriatrie zeugende Haut der Touristen.
Das Wort bezeichnet z.B. die Tatsache, dass der Mietwagen (el coche) auf der rechten Seite stark verbeult ist, beim Geradeausfahren scharf nach links zieht und die Vorderachse beim Fahren ein Dengelgeräusch erzeugt, dass ihre Aufhängung an noch maximal einer verrosteten Schraube verheißt. Man benutzt es auch für das nurmehr tröpfelnde Rinnsal aus der Apartmentdusche, das Nicht-Funktionieren der Herdplatte (la playa) und die etwas eigentümlichen architektonischen Sitten des Landes. Während der Mitteleuropäer am Bau zu einer erprobten aber zugegeben eintönigen Rechtwinkligkeit neigt, entfaltet der Kanare hier erstaunliche geometrische Kreativität. Eher trapezförmige Tür- und Fensterrahmen z.B. sind Standard und sorgen stets für ausreichende Frischluftzufuhr im Gebäudeinneren.
Ich besitze ein Spanisch-Lehrbuch, und in einem der ersten Kapitel, fragt ein Taxigast den Taxifahrer, ob er das Fenster öffnen dürfe. Der Fahrer antwortet, das ginge leider nicht, das Fenster wäre kaputt (esta rota). Da soll noch mal einer sagen, die Dialoge in solchen Sprachlehrbüchern seien realitätsfremd.
Normál ist natürlich auch, dass man es mit der Mehrsprachigkeit auf Hinweisschildern, Speisekarten etc. nicht so ernst nimmt. So richtig mitteilenswerte Schenkelklopfer sind mir aber leider nicht begegnet. Ganz nett war der Busfahrplan, in dem die Abfahrtszeiten für die „Epoche Student“ aufgelistet waren. Da ich vor etwa einem Jahr die „Epoche Student“ hinter mir gelassen habe, und mich seither in der „Epoche Galeere“ befinde, hielt ich vom Busfahren Abstand. Am Hotelaufzug konnte man noch lesen, was „im Fall von Feuererklänuy“ zu tun sei. Ein eher schmaler Schmunzelertrag auf diesem sonst so verlässlichen Gebiet, zugegeben.
Außerdem: In puncto Fremdsprachen haben die es ja auch wirklich nicht leicht. Nicht nur Deutsch und Englisch werden nachgefragt, die Speisekarten sind darüber hinaus in Holländisch, Dänisch, Schwedisch und Finnisch zu gestalten. Es gibt sogar finnische Restaurants. Der gewiefte Gastronom versucht da schon eher den Rundumschlag: „Chinese, Indian & European Food + Hollandse Snacks“. Zu seligen Dalli-Dalli-Zeiten hätte weiland Medy Riehl da mal mindestens eins als „Oberbegriff“ abgezogen.
Ansonsten tragen die Kneipen verheißungsvolle Namen wie „Planet Bayern“ oder, mein Favorit, „Ristorante-Pizzeria de la viaje ciudad de Düsseldorf“.

Ich empfehle, ein Reisetagebuch zu schreiben. Da behält man hinterher den Überblick über das Erlebte und manchmal bringt es einen sogar zum Schmunzeln:
„Dienstag: Ersatzauto. Dengelt auch. Rechtes Seitenfenster kaputt. Wanderung zum Kraterrand. 1a-Ausblick, göttliche Stullen. Dem Tode ins Antlitz geblickt (zwei einheimische Halbstarke mit „no-turismo-T-Shirts“). Abends wieder dem Tode ins Antlitz geblickt (6 Pints „Merryman-Vintage-Cider“, 7.5 Vol%), anschl. Geschlechtsverkehr, normál.“

Alles weitere, was man berichten könnte, kennt man auch schon aus anderen Ländern, wie Frankreich oder Italien, wo allerdings deutlich besser gekocht wird. Etwa die merkwürdig unpraktische Art, ein Bett zu beziehen, den sympathischen Hang zu starkem Kaffee mit Cognac und Rauchware, die Tatsache, dass Polizei und Ambulanz nicht „zuspäät-zuspäät“ sondern „ehzuspät-ehzuspät“ machen, und im Bad gibt’s immer ein Bidet. Letzteres ist sogar ganz nützlich, da kann man nämlich seine Dreckwäsche drin sammeln und bei Bedarf auch waschen.
Eins noch: Zum Wandern braucht man ein paar ordentliche Schuhe – mehr nicht. Seit neuestem gibt es Menschen, die selbst zum Spazierengehen im Park erst Mal im Sportgeschäft eine Ausrüstung incl. zweier Skistöcke kaufen müssen. „Nordic Walking“ nennt sich das dann, und (mein Verleger sagt immer, ich solle mich nicht so echauffieren, das gäbe mir so’n Brillenschlangenappeal, aber...) das ist nun wirklich das mongomatenmäßig beknackteste, was die Menschheit seit langem erbrochen hat. Wenn uns Wanderern mal ein „Nordic-Walker“ begegnet gilt informell folgende Handlungsmaxime: man lenke ihn kurz ab (z.B.: „oh, sieh‘ mal, da drüben“) entreiße ihm den Skistock, werfe ihn in einen barranco, sage: „hol’s Stöckchen!“, und verabschiede sich, Handfläche an Stirn. Bei Bedarf gewürzt mit den Worten der kanarischen Punk-Ikone Juan Estarota: „Ay hombre, coito tu madre mangino.“


Anhang
weitere wichtige Vokabeln:
sin plomo – tadelloses Gebiss
con gas – Musik, Trommeln
agua con gas – Erfolgsroman von T.C. Boyle
olé – mit Milch
leche leche – öche öche
Rey Carlos – Sänger (blind)
zona agro-turisme – hier wache ich!
verzeihung, bin kein ideendieb, frage mich nur, wie komme ich im surfen zu diesem vorgefertigten beitrag, überigens...netter beitrag...
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Dr. Dralle
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Beitrag von Dr. Dralle »

einmal im jahr vergibt die landesregierung des landes nordrhein-westfalen den sogenannten staatspreis. er ist mit 25000 euro dotiert und wird für herausragende kulturelle oder wissenschaftliche
leistungen oder herausragende leistungen in anderen lebensbereichen verliehen. der staatspreis geht an personen, die dem land durch werdegang und wirken verbunden sind. ihr wirken muß wesentlich über den rahmen örtlicher oder regionaler bedeutung hinausgehen.
vornehmlich dieser letzten einschränkung ist es zu verdanken, das ich noch nicht dem erlauchten kreis der preisträger angehöre, zu dem u.a. so illustre zeitgenossen wie krysztof penderecki, paul spiegel, alice schwarzer, hanns dieter hüsch und marcel reich-ranicki zählen. dank einer günstigen fügung des schicksals werde ich jedoch zur preisverleihung auf den petersberg geladen, dem elitären spektakel beizuwohnen.

heuer ist der preisträger der berühmte professor habermas, der übrigens ein alter spezi von unserem verehrten „professor“ adorno ist, den ich an dieser stelle ganz besonders herzlich grüßen möchte.
(was machen ihre putsch-pläne hier im forum? wieder mal versandet? na macht nichts, beim nächstes mal bin ich auf jeden fall mit von der partie! versprochen!)

der abend beginnt mit einer lyrischen suite von alban berg, gespielt von einem streichquartett. ich weiß nicht, wie sie zu alban berg stehen, ich finde seine musik nicht besonders eingängig, da fehlt irgendwie das schmissige oder zumindest eine melodie, die man noch auf dem nach-hause-weg pfeifen kann.

moderator der veranstaltung ist der tagesthemen moderator tom buhrow, ein mann, der offensichtlich nur ganz wenig ahnung hat, worum es eigentlich geht. ich weiß auch nicht viel mehr aber im gegensatz zu herrn buhrow sitze ich ziemlich weit hinten und verhalte mich ruhig und abwartend.

als erster redner tritt herr rüttgers, der ministerpräsident des landes nrw ans rednerpult und sagt eine menge lobendes über herrn habermas, was mich nicht weiter überrascht. schließlich wird hier ja ein staatspreis vergeben!
die anschließende laudatio ist zweigeteilt, gilt es doch das werk des preisträgers und dessen gesellschatliche bedeutung zu werten und einzuortnen. mit der werkschau ist professor dr. wolfram hogrebe beauftragt worden, der das ganze auf sehr hohem intellektuellem niveau ansiedelt, was dazu führt, das mein blick schon nach kurzer zeit aus dem fenster schweift, über den in fast vollständig in dunkelheit gehüllten rhein hinweg nach königswinter. von hier oben sieht es fast aus als würde man in einem flugzeug sitzen oder meinetwegen auch in einem fesselballon oder zeppelin...
hans joachim vogel, der ehemalige spd-vorsitzende holt mich mit seiner eher bodenständigen würdigung der gesellschaftlichen bedeutung des habermasschen werkes in die realität zurück. der mann ist eindeutig der beste redner des abends.
anschließend darf auch der bepreiste selber ans mikrofon. er hält einen mitreißenden vortrag über die macken europäischer politik, die fehler der amerikanischen regierung und die probleme die sich aus dem zusammenleben von angehörigen verschiedener religionsformen und ungläubigen ergeben. so genau krieg ich das jetzt alles nicht mehr zusammen, da hilft ihnen aber wahrscheinlich ein blick in spiegel-online oder die rheinische post weiter, wenn es sie wirklich interessiert.

danach wird das buffet eröffnet. es ist der eigentliche grund meines hierseins und ich nehme an, 98.4% aller anwesenden werden von ähnlichen beweggründen geleitet. (die zahl habe ich übrigens grade erfunden) bei den vorspeisen gefällt mir besonders geräucherter und gebeizter lachs an marinierten rukolaspitzen und der rosa gebratene rücken vom weiderind mit mandarinen-relish. die leicht geräucherte entenbrust ist nicht so mein ding, die balsamessig-honig linsen darunter schmecken viel besser!
bei den hauptgerichten war das ragout vom dammhirsch der knaller. das fleisch butterzart und die sauce mit eingelegten sauerkirschen lud zum reinsetzen ein. die dazu gehörenden haselnußschupfnudeln waren ebenfalls von hoher qualität! die medallions vom flusszander auf geschmortem safranfenchel und die supreme von der maispoularde auf einem ragout von linsen und herbstrübchen war aber auch nicht von schlechten eltern. mein lieber kokoschinski!
ich erspare ihnen eine ausführliche schilderung des nachtischs. nur soviel: mousse von weißer schokolade und kaffe mit eingelegten zwergorangen und halbgefrorenes von der blaubeere. mehr sag ich nicht.
mit den beiden weinen, einem riesling kabinett vom weingut geheimrat j. wegeler und dem dornfelder qualitätswein vom weingut deutzerhof kann man sich problemlos besaufen. Beide weine werden vom aufmerksamen personal pausenlos nachgeschüttet und schmecken 1a.

zum schluss meiner betrachtung über diesen durchaus gelungenen festakt muß ich allerdings noch von einer echten enttäuschungen berichten! sie betrifft die qualität des angebotenen kaffees. der war einfach scheiße.
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Dr. Dralle
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Beitrag von Dr. Dralle »

eigentlich wird fernsehn ja immer langweiliger. irgendwie hat man alles schon mal gesehen und das medium an sich agiert normalerweise relativ pannenfrei, sieht man mal von dem einen oder anderen versprecher oder sonstigen ödigkeiten ab.

samstag der 17.11.2006 war jedoch alles ganz anders...

kurz das szenario: ich liege auf dem sofa und entnehme meiner kostenlosen programmzeitschrift, das auf einem „sender“ namens „t5“ die schöne, alte kegel komödie kingpin mit dem von mir hoch geschätzten bill murray laufen soll, ein film, den der greise herr mentz in der superlupo seinerzeit lobend besprach und der sich trefflich eignet, den verregneten samstagnachmittag auf dem sofa zu verbringen und dabei den fersehkasten zu bespähen.

ich schalte also schlag 15.00 uhr das „t5“ ein und eine grafik erscheint auf dem bildschirm, auf der steht: „bitte haben sie etwas geduld!“

das ist ja wie früher denke ich, als es noch tafeln mit „tonstörung“ oder ähnlichem drauf gab. die tafel will auch nicht weichen, stattdessen hört man schon mal den ton des films:
cat stevens, der jetzt jussuf islam heißt singt sein schönes lied: „oh very young...“ und ein dialog zwischen vater und sohn wird hörbar, aus dem hervorgeht, das die beiden noch ein wenig kegeln wollen, bevor es was zu essen gibt und das der junge wohl außergewöhnlich begabt ist, was das kegeln angeht.

an dieser stelle bemerkt der diensthabene techniker bei t5, das irgendwas mit dem bild im argen liegt und stoppt das band. es herrscht einen augenblick lang völlige ruhe, die grafik „bitte haben sie etwas geduld“ brennt sich knisternd in den bildschirm ein. als nächstes wird zurück gespult. man sieht nichts aber ich kann es hören! ganz offensichtlich arbeiten die jungs und mädels bei t5 noch mit einer dampfgetriebenen maz aus der mitte des voherigen jahrhunderts.

mein interesse ist geweckt!
Wie wird es weiter gehn?

die grafik: „bitte haben sie etwas geduld“ steht wie ein fels in der brandung. nach kurzem schweigen hebt der ton wieder an: cat stevens: „oh very young...“ der dialog zwischen vater und sohn... aber kein film...
jetzt kann man den angst schweiss des t5-technikers förmlich riechen. „wo zum teufel ist das verschissene bild? der ton tuts doch!“ brüllt er und spult die maz erneut zurück. Das führt dazu, das die bisher gut sichtbare grafik „bitte haben sie etwas „geduld“ an zu flackern fängt.

In mir breitet sich ein gefühl inneren friedens und großer heiterkeit aus...

um es kurz zu machen, es gab noch ein paar gescheiterte versuche den film zu starten und bei jedem mal steigerte ich mich mehr in einen nicht enden wollenden lachanfall hinein. als dann endlich nach gut einer viertel stunde der film mit bild und ton startete, um dann sofort nach der schon mehrfach wiederholten eingangssequenz von einer werbung unterbrochen zu werden, mußte ich den fensehkasten ausschalten.

danke t5 für diesen wundervollen... was auch immer!
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lenin
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Gute Vorsätze

Beitrag von lenin »

Gute Vorsätze
Lenin geht einkaufen


Vorspiel:
Weil Silvester ist, habe ich ihnen ein paar gute Vor-Sätze mitgebracht. Vor-Sätze sind Sätze, die sozusagen vor der eigentlichen Kolumne stehen, ohne mit dem Folgewerk in engerem Sinnzusammenhang stehen zu müssen. Nur gut sollten sie eben sein. Wie z.B. jener wohlbekannte:

Wer das liest, ist doof.
Ein Klassiker, fürwahr, und, das wird niemand bestreiten, ein sehr guter Satz.
Erstaunlich übrigens, stammt doch dieses Exemplar aus dem Umfeld Heranwachsender, welche sich für gewöhnlich eher durch Hirnstromschwäche und zu seltenes Duschen auszeichnen, denn durch hintersinnigen Feingeist. Der Wahrheitswert dieses Satzes ist in der überwiegenden Anzahl der Fälle gleich w.

Kurt Ehrhardt rennt am Strand rum.
Diese auf den ersten Blick eher in das Fach des Vorstadtconferenciers gehörende Verballhornung des lateinischen q.e.d., vermag sich zu später Stund‘, und spontan aus dem Mund eines Mitbewohners sprudelnd, schon mal als überaus gut zu herauszustellen.

Herr Dietmar Kolb verpflichtet sich zur Zurückgabe der von Frau Gisela Kolb in die Ehe eingebrachten Christallsaftgläser der Firma Peil, Serie Granada, Zug um Zug gegen Herausgabe der Kissen, die extra für die fest eingebaute Sitzecke des Kaminzimmers angefertigt wurden, sowie zur Beschaffung einer Handbrause der Firma Grohe, um diese seiner geschiedenen Ehefrau zu übergeben.
Hier also die eher barocke Verschachtelung – size does schließlich matter, wenngleich das Wörtchen „extra“ nicht so recht in das ansonsten formvollendete Amtsdeutsch passen mag.
Diesen guten Satz habe ich einer sogenannten Scheidungsfolgevereinbarung entnommen. Er beruhigt dahingehend, dass wir in modernen, aufgeklärten Zeiten leben, in denen der Mann, nun da er seinen ehelichen Pflichten nicht mehr nachkommen kann, ihr für die Wartezeit auf den nächsten wenigstens eine Handbrause zur Verfügung stellen muss (wir hoffen allerdings, dass es dabei nicht zu Beschaffungskriminalität kommt.).
Saugut ist der Mittelteil („Christallsaftgläser der Firma Peil, Serie Granada“); Loriot hätte es nicht besser komponieren können.

Droge Weihnachten und einen guten Putsch
Schreibt ihr Mobiltelefon, wenn sie dieser Tage eine sms versenden. Und welchem guten Freunde würde man derlei nicht von Herzen wünschen?


Hauptteil:
Eine Adventsgeschichte: Neulich stürzte ich mich des frühen Abends noch Mal ins innerstädtische Gewühl der allgemeinen Weihnachtsgeschenkehatz. Auf meinem (wenngleich nicht tatsächlich vorhandenen) Einkaufszettel waren die Erwerbspläne klar umrissen; zwei Dinge braucht der Mann:
Ein Baumbestimmungsbuch und die Greatest-Hits der Les Humphries Singers.
So weit, so gewöhnlich. Allein, es handelte sich hierbei nicht um meine diesjährigen Weihnachtsgeschenke für den Verleger oder für irgendeine bucklige Verwandtschaft, nein, ich wollte diese beiden Sachen für mich!
Als ich in der U-Bahn saß und im Kopf noch Mal meine Einkaufsliste durchging wurde mir kurz ein wenig unbehaglich.
Wissen sie, erst neulich ergab eine Studie der renommierten Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, dass die weltweite Population heiratswilliger weiblicher Fotomodelle, deren erotische Phantasien um glatzköpfige Brillenschlangen kreisen, mit denen sie im Wald Baumarten bestimmen und später zu halblauten Klängen von Siebziger-Jahre-Schlagern vor dem Kaminfeuer glückliche Kinder zeugen, in den letzten fünfzig Jahren drastisch zurückgegangen ist. Und ich habe noch nicht mal einen Kamin.
Und tatsächlich gehört ja der Satz „Du Schatz, ich geh‘ grad‘ mal zum Kiosk, noch’n Baumbestimmungsbuch holen“ nicht unbedingt zum Standard-Konversationsrepertoire in juvenil-urbanen Szeneleutehaushalten.
Nicht, dass ich nicht meine guten Gründe für den Kauf ausgerechnet dieser beiden Artikel an diesem ganz bestimmte Tag gehabt hätte. Darum geht es nicht.
Lassen sie uns aber nur mal kurz den Gedanken durchspielen, der Himmel hätte just in diesem Moment meine Jugendliebe Tamara auf den gegenüberliegenden U-Bahn-Sitz gezaubert. Die, auf die ich während der gesamten Mittelstufenzeit scharf war, aber natürlich viel zu hasenfüßig, um auch nur jemals in ihre Nähe zu gelangen (zu Heranwachsenden siehe oben). Man hätte sich erkannt, freudig überrascht gegrüßt (mit vielen Meeensch!s und wie geeehd‘s?s) und recht bald wäre das Gespräch auf die aktuelle Situation geschwenkt, mit anderen Worten: nach kurzer Zeit wäre ich unweigerlich mit der Frage konfrontiert gewesen:
Was willst du denn kaufen?“

Nun, die Wahrheit ist ein hohes Gut, meine Damen und Herren, zweifellos,
dennoch empfehle ich ihnen, sollten sie selbst mal in eine vergleichbare Situation geraten, dringend eine unverfängliche Antwort etwa in der Art der folgenden:
„ach, paa Klamotten, ma kucken“.
Zum einen ist das nicht außergewöhnlich, muss also nicht weiter erklärt werden, zum zweiten sprechen Damen gerne über Textilienkauf, drittens bietet sich dann alsbald Gelegenheit, ihr ob ihres aktuellen Outfits ein paar schnittige Komplimente zu machen, worauf man sich schließlich viertens, ein paar Abende später, flugs in einer Situation befindet, ihr versichern zu können, dass ihr diese Klamotten noch viel besser stehen, wenn sie sie jetzt mal grade schnell alle auszieht. Gut gelaufen, also.
Schlechter schon wäre die Antwort:
„Geschenke kaufen.“
Es droht ein Gespräch über Weihnachten und die Eltern, und selbst wenn Tammy in allen diesbezüglichen Fragen im großen und ganzen gleicher Meinung wäre, verabschiedet man sich doch ein paar Stationen später mit einem lauen „Tja“ und einem seufzenden Blick. Die Anwesenheit von Eltern, und sei es bloß in rhetorischer Gestalt, erstickt nun mal immer noch jede Erotik im Keim. Und wenn sie die Frau ein paar Jahre später mal wieder treffen wohnt sie längst samt Versicherungsvetreter, zwei Bälgern und Dobermann in einem Vorstadtreihenhaus. Das muss ja nicht sein.
Wie steht es mit:
„Gar nichts. Ich fahr zu Tante Heidi, da gibt’s lecker Muckefuck und Schrippen.“
Diese Antwort ist zwar, wie gefordert, unverfänglich, und es ist mit Sicherheit ein guter Satz im Sinne des heutigen Kolumnenvorspiels, trifft aber gleichwohl in der skizzierten Situation daneben. Klingt einfach viel zu gemütlich. Bedenken sie, dass ihre Beziehung zu Tamara sich zu diesem Zeitpunkt noch in einem sehr frühen Stadium befindet. Sie sollten sich also bemühen, ein wenig sportlich und tätowiert rüber zu kommen. Sonst denkt sie noch, sie wären der Versicherungsvertreter aus dem vorangegangenen Beispiel, und da würden sie einfach den zweiten Schritt vor dem ersten machen. Das eigentlich zentrale Projekt jeder Frau ist die Domestizierung; es empfiehlt sich also nicht, schon als Haustier in die Manege zu treten.
Taktisch unklug ist übrigens auch, sich all zu schnell mit seinen tollen Lieblingsbands und ausgesuchten Stammdiskotheken zu brüsten:
„Ich hol‘ mir ne Karte für die Classified Trees. Innenraum.“
Derlei Themen erforden vom Gesprächspartner auch recht bald ein Bekenntnis. Tamara könnte ihnen unversehens mit glühenden Augen vom „geilen Anastacia-Konzert neulich“ vorschwärmen, und weitaus schlimmer als eine lebenslang unerfüllt bleibende Jugendliebe ist doch, wenn diese Liebe in Sekundenschnelle vor ihren Augen zu Staub zerbröselt wie das Wetten-Dass-Logo nach einer verlorenen Wette.
Grundfalsche Antworten sind:
„Ich brauch‘ dringend Scheißhauspapier.“
oder
„bißjen Sprit – hab‘ letzte Nacht meine gesamten Schnapsvorräte leergesoffen.“

Die Replik: „Ich will mir ein gutes Baumbestimmungsbuch kaufen, du weißt doch, ich bin passionierter Wanderer, und außerdem suche ich eine CD der Les Humphries Singers“, trägt also in diesem Antwortmöglichkeitenranking zwar nicht die ganz rote Laterne, schwebt aber auf jeden Fall in konstanter Abstiegsgefahr und muss vermutlich auch dieses Jahr wieder in die Relegation.


Ich frage mich an dieser Stelle:
Ob Tamara wohl meine Kolumnen liest? Ob sie sie mag? Ob ich vielleicht eine Chance bei ihr hätte, heute, sozusagen als erfolgreicher Künstler?
Und muss an eine Geschichte denken, die man sich von Neil Diamond erzählt:
Er sei einst während der Zugaben irgendeines ausverkauften Konzerts, angesichts der damals vielen tausend Menschen, die ihm zujubelten, in Tränen ausgebrochen, und habe ins Mikrofon gerufen (singemäß): „Ja, Mary, damals auf der High-School, da war ich verknallt in dich, aber du hast mich abblitzen lassen. Könntest du das hier heute sehen, würdest du’s bereuen!“
Nageln sie mich bitte nicht auf den Namen fest (Mary) und fragen sie nicht nach Kalenderjahr und Ort – ich bin gerade zu faul zu recherchieren – aber jede Neil Diamond Biographie wird diese Geschichte bestätigen.
Nun, bei allem Verständnis für die Tamara/Mary-Neurosen erwachsengewordener Jungs, muss ich doch sagen: Dass dieser Plot und derlei Triumphgeheul seit Neil Diamond immer und immer wieder als Textmotiv in der Rock- und Popkultur fröhliche Urständ‘ feiert (um nur zwei sehr bekannte Beispiele zu nennen: Zu Spät - DIE ÄRZTE und, in Verdoppelung des Motivs: Skaterboy – AVRIL LAVIGNE), hat m.E. nicht nur etwas pubertierendes und in Gestalt älterer Männer auch etwas zutiefst jämmerliches, sondern es ist zudem erschreckend puritanisch (etwa in dem Sinne: Erfolg = Berechtigung zur sexuellen Absolution).
Und die darunter schwelende Vergeltungslust, ist darüberhinaus unbegründet, denn es gibt den Tamaras dieser Welt ja nicht wirklich etwas vorzuwerfen. Schließlich waren wir ja die pickligen Pennäler, die teenage dirtbags.
Wenn überhaupt, dann sollte man argumentations- und handlungslogisch den Gaul von hinten aufzäumen, also etwa, Tamara im Arm, vorm Verleger stehen und kühn verkünden:
„Weißt du Alter, die Spiegel-Bestseller-Liste ist eins, aber wahrer Erfolg (jetzt mit beiden Zeigefingern auf Tammy deutend) sieht so aus. Und jetzt entschuldige uns.“

Sei es wie es sei, der liebe Gott schickte jedenfalls an diesem Abend erwartungsgemäß keine Tamara vorbei. Nicht in die U-Bahn, und auch später in der Kassenschlange blieb ich von erdrückender Nähe irgendwelcher Menschen, um deren Gunst zu buhlen sich gelohnt hätte, verschont. Nichtsdestotrotz fühlte ich mich während des Einkaufs latent beobachtet, und nach dem Bezahlen ließ ich das Buch und die CD vorsichtshalber als Geschenk einpacken.

Die Les Humphies Singers, das sei hier für das jüngere Publikum erklärt, waren eine Schlagerkapelle der frühen siebziger Jahre, in welcher besagter Herr Humphries als eine Art Gotthilf Fischer der Hippiegeneration einen Chor aus Sängerinnen und Sängern aus aller Herren Länder um sich scharte. Man sang vornehmlich Spirituals und Gospel-Standards und unterlegte sie mit dem, was man damals für Disco-Beats hielt. Später kamen auch ein paar Eigenkompositonen hinzu. Mexico könnten sie kennen und Mama Loo (engl. f.: Toilettenfrau).
Ich empfehle besonders das Stück Old Man Moses, wo jede Strophenzeile mit „well, I believe“ o.ä anfängt, man versteht aber immer „Miracoli“.
Der Bandname ist leider nicht ganz so spektakulär wie die anderer deutscher Kapellen, die sich mit Hilfe der Buchstabenfolge L-E-S tauften (Les Immer Essen oder Les Hommes qui wear Espandrillos), aber immerhin begannen bei Les Humphries die Karrieren von Jürgen Drews sowie von Liz Mitchell, der späteren Sängerin von BONEY M. Ich glaube, einer der Typen hat sogar später bei URIAH HEEP gesungen, einer Band, deren Namen ich als Kind nicht aussprechen konnte.
Auch Humphries‘ damalige Gattin Dunja Raiter vermochte zeitweise, B-Celebrity-Status für sich zu reklamieren.
Natürlich sind die Les Humphies Singers aus heutiger Sicht nurmehr ein Treppenwitz der Musikgeschichte, aber immerhin gibt es bei Saturn noch vier verschiedene Greatest-Hits-Alben zur Auswahl. Vier Alben wohlgemerkt, auf denen jeweils genau die gleichen Songs drauf sind. Das riecht zwar nach Redundanz, aber auch nach Entscheidungserleichterung, denn man kann, weil Geiz geil ist, einfach die billigste nehmen.
Einer ihrer größten Hits, Soolaimon, stammt tatsächlich aus der Feder von Neil Diamond (s.o.), und man munkelt, Rick Rubin habe letztes Jahr lange mit sich gerungen, welchem der beiden großen Künstler er zu einem späten Comeback verhelfen solle.
Les Humphries hatte nämlich bald, Ende Siebziger, massive Zocker- oder Steuerschulden, flüchtete ins heimatliche England und ward seitdem nicht mehr gesehen. Und also möchte ich ihm, dem verschollen gebliebenen, dreißig Jahre später, in Abwandlung meines geistigen Mentors, zumindest folgendes hinterherdichten:
„Les,
ich vermiss dich.
Nicht so sehr wie Steve Bender, Tina Riegel oder Bloch.
Aber ein kleines bißchen. Ein kleines bißchen doch.“
(frei nach: Deutschland von H.R. Kunze)

Der thematische Aufhänger meiner Adventsgeschichte ist übrigens wirklich wahr, meine Damen und Herren, und so sei zum Finale ein großer zeitgenössischer Kolumnologe zitiert, der unlängst geäußert hat:
„Kolumnen schreiben, das heißt zuvörderst: mit den eigenen Schrullen hausieren gehen.“
Was das betrifft, dürfte Kurt Ehrhardt nach dem Lesen dieses Textes eifrig am Strand rumgerannt sein.


Coda:
Weil Silvester ist, habe ich für sie noch zwei gute Fort-Sätze gemacht.

Wie die meisten wissen, lagern die amerikanischen Goldreserven streng bewacht in Fort Knox, welches von Kindern,
die ja auch Gohfi und Donald Dug sagen,
Ford Gnoggs ausgesprochen wird.


Schon recht gut oder? Aber der zweite ist jetzt wirklich gut:

Just als Körnel McChristie den Sturmbefehl auf Fort Henley zu geben sich anschickte, um auch noch die letzte Bastion der Konföderierten südlich des St.-Henry-Stroms dem Erdboden gleich zu machen, bebte unter ihm sanft die Erde,
er gewahrte einen purpurnen Hauch am Horizont, und uuuuuugliknigl.


Fürwahr ein fomidabler Satz, zumal er, gleichsam wie einen behüteten Schatz, ein äußerst rares, ja womöglich dem ein oder anderen gänzlich unbekanntes, Wortjuwel enthält.
Nämlich „Konföderierten“.
(Tipp: Körnel wird Colonel ausgesprochen.)

Und nächstes Silvester machen wir alle zusammen ein paar echt gute (Farah-) Fawcett-ze.
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Beitrag von Weltalltag-Man »

Lieber lenin, erinnern sie sich noch:
lenin am 4.11.2004 hat geschrieben:Ich kann mir diese Bemerkung nicht verkneifen, Herr Weltalltag-Mann, aber [...] die Geschichte mit dem Geschi-Lernen und der Arschbombe haben sie bei Stuckrad-Barre geklaut
Beinahe hätte ich nun folgenden Kommentar verfasst:
wat am 10.1.2007 hat geschrieben:Ich kann mir diese Bemerkung nicht verkneifen, lenin, aber [...] die Geschichte mit der Besorgungshatz und dem bürgerlichen Mädchen haben SIE geklaut.
...aber ich hab's dann doch gelassen, denn wer möchte schon durch Nachäffung der ollen Rachenummer mit Typen wie Neil Diamond in einem Boot sitzen. Außerdem haben sie schönere und konzentriertere Gedanken über Tammys und Mandys und Cathleens zu Tage gebracht. Ach, die sind schon alle lieb, die Weibis, denen täuscht man doch gerne eine gelungene Domestizierung vor.

Übt sich in Geduld: WAT.

(Und wieso klappt das nie, wenn ich den Link vom weißen Kästchen eines Beitrages kopiere, daß genau der Beitrag auch angezeigt wird und nicht der Seitenanfang?)
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Beitrag von lenin »

hallo wat,
habe ihre Geschichte noch mal gelesen, sie ist wirklich gut, aber was hat sie mit meiner Kolumne zu tun?
Sie wissen doch, ich klaue ausschließlich bei Oscar Wilde (siehe "Lenin lernt lesen")
Aber im Ernst:
Bei Allerweltsthemen wie Arschbomben oder Jugendliebe wird unsereins vermutlich im Laufe des Lebens noch dutzende Male entdecken müssen, das andere ähnliche Gedanken auch schon Mal verwurstet haben. Um diesem Blues nicht allzu oft ausgesetzt sein zu müssen, hilft wohl nur eins: so wenig wie möglich lesen.
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Beitrag von Weltalltag-Man »

so wenig wie möglich lesen
Oder vielleicht ist das auch der Grund, warum ich nach den ersten Zeilen ihrer Hauptgeschichte an meinen Text dachte, weil ich einfach noch zuwenig solcher Stories kenne.
Wurscht, ich hatte außerdem im Kopf, sie hätten mal gewünscht, mehr Rückmeldung zu bekommen (aber vielleicht kommt die ja auch auf anderen Wegen) und das fiel mir eben dazu ein. Das und, daß es gar nicht genug solches hessische Lokalkoloridd hier uff de Päidsch gewe koh!

Mer liest sisch.
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MMC
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Beitrag von MMC »

Grosses Kompliment (wie immer) fuer Ihre Kolumne, Herr Lenin. Ich moechte mich in die Plagiats-diskussion allerdings nur mit dem folgenden Kalauer einmischen.

Weltalltag-Man hat geschrieben:Das und, daß es gar nicht genug solches hessische Lokalkoloridd hier uff de Päidsch gewe koh!
Nicht nur Prof. Adorno wird der Meinung sein, dass es in diesem Forum bereits genug Hessen-dies und Hessen-das gibt...
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lenin
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keine Kolumne, nur ein Nachtrag

Beitrag von lenin »

Lenin hat geschrieben:Zum einen wurde der aurale Affront prämiert, dass Mister Fred Durst (was für ein Nachname!) seit neuestem auf Tonträgern versucht zu singen. Bekanntlich waren die Meinungen zu Limp Bizkit schon seit jeher troubadixoid gespalten, aber mir geht es hier gar nicht um die Band, sondern um die bloße Tatsache, dass ich tatsächlich noch nie, auch nicht in meinem persönlichen Bekanntenkreis, jemanden getroffen habe, dessen Intonationsvermögen sich derart strikt an die Heisenbergsche Unschärferelation bindet.
Und das wohlgemerkt nach der Zuhilfenahme all der computertechnischen Mogelmöglichkeiten, die heutzutage einer Tonstudioproduktion dieser Budgetklasse zur Verfügung stehen. Wenn man sich so schauderhaft von der Natur unbegütert dann auch noch an Klassikern wie „Behind Blue Eyes“ oder „Bittersweet Symphony“ vergeht, dann bleibt es folgerichtig nicht aus, dass unbedarfte Radiohörer wie Herr Lenin als hochkariöse Kollateralschäden zurückbleiben
Die Zeitschrift Q kürte unlängst die 100 besten Sänger – mit teilweise vorausschaubaren, teilweise gar etwas müden Ergebnissen (boring Elvis auf Platz 1, Aretha Franklin auf 2 und Frank Sinatra auf 3) aber gewohnt informativ und sauber recherchiert.
Quasi en passant wurden unter der Überschrift „Dark Side of the Croon“ gleich noch die zehn schlechtesten Sänger aller Zeiten abgewatscht. Und siehe da: Herr Durst schafft es aus dem Stand auf Platz 2 dieses schönen Wettbewerbs: „Did poor little Freddy have an unhappy childhood? Apparantly so, which presumably is why he chooses to whine like a four-year-old about it.“
Und dass er für dieses eine Mal noch Herr Osbourne den Vortritt lassen musste, was den Titel anbetrifft, ist wohl eher Respekt vor dem Alter seitens Q,
m.a.W. unser Fred ist bereits die eigentliche Nummer 1. Jedenfalls hat er so manchen schwerverdauliche Brocken schon hinter sich gelassen,
etwa Céline Dion und Mariah Carey souverän auf die Plätze verwiesen, und Bobby Gillespie, Haircut 100‘s Nick Heyward („gurning milksop“) sowie Yoko Ono („Cursed with a voice that even John Lennon couldn’t love, she was (...) a cross between a shouter and a screecher. For obvious reasons, she is never photographed with cats.“) beinahe schon deklassiert.
Und wenn ich noch einen Wunsch äußern dürfte. Als nächste Limp Bizkit-Single wünsche ich mir Robby Williams‘ "Angels". Das wird ein Fest...
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Werbung! Reklame! Sell Out!

Beitrag von lenin »

Literature, Music, Lobotomies: djlenin.de

Nun, ich weiß, dass Eigenwerbung in diesem Forum nicht unbedingt tägliche Praxis ist. Andererseits gibt es ja schon seit längerem den Strang mit Eigenkreationen.
Ich möchte Sie aber heute hier in diesem Strang auf mein bereits im Januar erschienenes Buch
„Muckefuck und Schrippen – DJ Lenins gesammelte Kolumnen“ hinweisen, denn es enthält u.a. aufgepeppte, neu geremixte Versionen der in diesem Strang über die Jahre veröffentlichten Geschichten.
Eigentlich sollte die dazu gehörige Homepage spätestens Ende Februar fertig sein, doch leider ist sie das bis heute nicht. Also habe ich mich nunmehr dazu entschlossen, übergangsweise meine selbsgebastelte Dilettanten-Homepage zu nutzen. Sieht zwar alles andere als toll aus, sollte aber trotzdem ausreichend amüsant sein. So dass ich Sie mit recht gutem Gewissen einlade zu einem Besuch auf
www.djlenin.de
Es besteht selbstverständlich Bestellpflicht! Und etwaige Kommentare oder Anregungen können Sie dort im Gästebuch oder meinetwegen auch hier im Forum gerne hinterlassen.
Das große Glück – es ist nur einen Mausklick entfernt...

Stets der Ihre
Lenin
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Re: unverlangt eingesandte (Kolumnen-)Manuskripte

Beitrag von lenin »

Nun, da wieder ein kleines bißchen Leben in dieses Forum zurückgekehrt ist, möchte ich Ihnen auch mal wieder eine Geschichte kredenzen. Ich habe sie bereits vor einigen Monaten geschrieben, aber da hier ja teilweise komplette Sommerloch-tote-Hose herrschte, hab' ich mich zurückgehalten. Wollte schließlich keine Perlen vor die Säue..., sie wissen schon. Gleich isses soweit.
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Schwule Mütter im kalten Polar

Beitrag von lenin »

Schwule Mütter im kalten Polar
Lenin bricht das Eis (und eine Lanze für EMF und Readymade)


Neulich als ich spätnachmittags durch die süße Frühlingsluft meines lebens- und farbenfrohen Stadtteils schlenderte, passierte ich drei Knaben im Alter von geschätzten elfeinhalb, die sich dem für Ihre Spezies typischen Zeitvertreib hingaben: mit zwei kleineren Stöcken und einem Holzschwert aufeinander einschlagen unter lautstarkem Verkünden frei improvisierter Verbalinjurien, deren Vokabeln beim größeren Bruder aufgeschnappt, zwar noch nicht ganz verstanden, aber stilsicher im Ordner „krass“ abgespeichert wurden.
Knabe 1: „ey alder, dein‘ Muttä is schwul!“
Knabe 2: „na un alder, dein‘ Muttä steht auf Hetero-Männer!“
So weit, so rätselhaft. Dass man auch schon in diesem jungen Schusteralter am besten bei seinen Leisten bleibt, dürfte der nette Gesprächsbeitrag des dritten Beteiligten unterstreichen:
Knabe 3: „fick disch alder, dein‘ Muttä arbeit‘ bei Megdonnels! Als Fett!“

Nun, natürlich musste ich tief und breit in mich hineinschmunzeln,
aber Sie, liebe Leser, haben jetzt hoffentlich ernst und mahnend die kulturkritische Stirn in Falten gelegt. Schließlich: „Dieser Text ist nicht lustig. Bitte machen Sie sich Sorgen!“ (H.R.Kunze)
Ich musste spontan an Herbert Grönemeyer denken und seinen Blödmannssong aus den Achtzigern Kinder an die Macht, dessen Kernaussage wohl sein sollte, dass die Welt doch viel friedlicher wäre, wenn statt uns bösen, kriegstreiberischen Erwachsenen die ach so zarten und verspielten Heranwachsenden das gesellschaftliche Sagen hätten. Was die naivste Verkennung der Lage gewesen sein dürfte, seit Neville Chamberlain freudestrahlend ein Stück Papier über seinem Kopf schwenkte.
Vermutlich wusste Herr Grönemeyer, der zwar bekanntlich ohne Vokale singt
(„h‘b Fl’gz‘ge in m’nem B’ch“), dem ich eine gewisse Intelligenz aber durchaus unterstelle, selbst, dass seine Forderung ein klein wenig zu lennonesk ausgefallen war, um als ernstzunehmendes Statement durchzugehen.
Aber die Peer-Group, wir hatten damals den Zenit des Öko-Zeitalters, machte sich derlei Schmarrn nur allzu bereitwillig zu eigen. Irgendwie war die Öko-Generation auf interessante Weise präfixiert auf Kinder.
Während heute im großen und ganzen gesellschaftlicher Konsens darüber herrscht, dass z.B. die Erdrosselung eines schreienden Babys oder die Prügelstrafe für ein quängelndes Kleinkind durch den Notwehrparagraphen gedeckt sind, genossen die Blagen seinerzeit eine Art Heiligenstatus.
Nirgendwo lachtränendrüsenstimulierender festgehalten als auf der Platte Kinder und Narren der zum Karriereende hin zu einer Art satirischem Abziehbild der ganzen Bewegung (vulgo zu „Vollöks“) mutierten Grobschnitt. Quasi als Klimax dieses Albums (Konzept-Album, klar) sprechen ein paar Kleinkinder folgende Sätze in die Rillen:

„Wir waren bei euch, doch wir gehörten euch nie.
Ihr durftet uns Liebe geben, doch nie eure Gedanken,
denn wir haben unsre eigenen Gedanken.
Ihr dürft versuchen uns gleich zu werden,
doch versucht nie, uns euch gleich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts – noch bleibt es im Gestern.“

Also, mal nicht nur „im Gestern“ sondern auch im Ernst: So geht’s halt bei aller Liebe nicht!
Bin ja selbst Sozialisierter dieser Ära, geringschätze Auto- und Motorradfahrer, finde Atomkraft total nein danke, liebe den Wald und versuche, Menschen gegenüber love und nicht war zu maken, aber bei solch fußnägelkräuselerregender Kindergärtnerlyrik darf man sich am Ende auch nicht wirklich wundern, wenn die nachwachsende Generation sich lieber als eine Horde stumpfer, sackhosetragender Legastheniker geriert, deren Kommentar zum Thema vermutlich etwa so ausfallen dürfte: „Alder, wenn die Kindä wolln, solln die Viagra nehm un mich nich midso schwule Geseiä zuteksen.“

Grobschnitt haben, das sei der Fairness halber erwähnt, auch mindestens eine sehr schöne Platte gemacht, namens Illegal. Bei deren Produktion wurde zwar auch schon ein wenig zu viel gekifft, aber immerhin schaffte es das darauf verewigte Stück Silent Movie bis zur Hintergrundmusik des allmorgendlichen Segelflugwetterberichts (!?) im Hessischen Rundfunk. Ja, da möchte man dann doch herzlich gratulieren.
Und während Segelflugwetterberichte heutzutage etwas an massenmobilisierender Zugkraft und Omnipräsenz eingebüßt haben: Kinder und Narren gibt es wahrlich noch zur Genüge auf diesem Planeten.

Viel ausgeprägter noch als ihre Affinität zu Kindern war die Leidenschaft der Menschen in den achtziger Jahren für: Eis.
Sie denken jetzt an speckige Reiterhofmädchen vorm Dorfplatzcafé Venezia, aber es geht hier nicht um Speiseeis – Genuss jeglicher Art war in jenen Zeiten eher verpönt – es geht um weitaus mehr. Um Eis als des Deutschrockers daseinsbegriffliche Kernmetapher, sowohl zur Verortung der persönlichen emotionalen Befindlichkeiten wie der gesellschaftlichen Zustände im allgemeinen. Nicht etwa „Ice, Ice, Baby“ (Vanilla Ice), sondern vielmehr „Fire and Ice“ (W. Bogner). Nämlich so:

„Kalt oder heiß, kalt oder heiß,
alles oder nichts, gib mir Feuer oder Eis“ (Münchner Freiheit)

Ständig ist es präsent, allüberall wimmelt es von Herzen aus Eis oder Herzen unter Eis, erfrierenden Herzen, gebrochenem Eis, Blicke aus Eis, Eis, Eis, Eis.
Die gesamte prekäre Lage wurde offenbar als „Eiszeit“ (Peter Maffay) wahrgenommen oder zur Abwechslung als „Eiszeit“ (Ideal).
Wenn dann doch mal was ging zwischen den Geschlechtern – „und das Eis beginnt zu tauen“ (Udo Lindenberg) – dann war jedenfalls „Feuer unterm Eis“ (Ulla Meinecke) resp. „Feuer im Eis“ (City) und er bzw. sie war mit großer Wahrscheinlichkeit „so schön wie Blumen aus Eis“ (Karat) bzw. hatte „Feuer, das ist kalt wie Eis“ (Ina Deter).
Als interessanter Scheinseitensprung durfte auch mal „zu viel Hitze im Tiefkühlfach“ (Falco) herrschen, oder jemand war ausnahmsweise nur „kalt wie ein Stein“ (Herwig Mitteregger), aber die eiskalten Engel behielten die Fäden in der Hand, einer mochte gar „ein Eisbär sein im kalten Polar(!?)“ (Grauzone).
Selbst wer sich damals noch zum Anti-Establishment zählte, trank zumindest „eisgekühlte[n] Bommerlunder“, und es gab sogar tatsächlich einen wöchentlichen Fernseh-Breakdancekurs unter der Leitung eines schrulligen Bajuwaren namens Eisi Gulp. (Letzteres hat natürlich nichts mit dem Rest zu tun, musste aber unbedingt mal wieder in Erinnerung gerufen werden.)

„Glas“ konnte in der Bundesliga des Metapherndreschens ab und an einige Achtungserfolge für sich verbuchen – Liebende aller Zeiten sind schließlich in erster Linie fragil und zerbrechlich, also sind Herzen auch schon mal aus Glas – und auch der scheinbar unwiderstehliche „Tanz auf dem Vulkan“ erhob stetig Anspruch auf einen Champions-League-Platz. Aber niemals stand die unangefochtene Tabellenführung von Eis ernsthaft in Frage.
Der Kurs „Selbst Gedichte schreiben – für Schwangere ab dem dritten Monat“ der Volkshochschule Gütersloh war offenbar ganz Rockdeutschlands zentrale lyrische Inspirationsquelle.
Nicht, dass ich mich darüber echauffieren würde – als ich so alt war wie die Jungs vom Beginn der Kolumne, habe ich auch solche Texte geschrieben. Es ist vielmehr das humoristische Potenzial, das wie so oft im oberflächlich Fürchterlichen schlummert, auf welches hinzuweisen einmal mehr mein Begehr war. Und besagte Ära hält fürwahr eine schier unerschöpfliche Portion Schmunzelfutter bereit. Verzeihen Sie mir also bitte, wenn ich in meinen Kolumnen immer mal wieder darauf zu sprechen komme.


Werfen wir aber nun einen Blick auf aktuellere Ereignisse in der Welt der Hausfrauenlyrik.
Da, wie Sie vielleicht wissen, unlängst mein erstes Buch erschienen ist, und ich seitdem erstmals wieder eine Kolumne in vergleichbarem Stil schreibe, entsteht hier sozusagen, falls ich die chronologische Reihenfolge auch für zukünftige Bücher wählen sollte, der opener zu meinem zweiten Album. Und das birgt zweifellos eine Reihe künstlerischer Risiken.
Viel hängt bekanntlich vom berühmten ersten Eindruck ab; das Lesevolk ist gespannt und schaut genau hin: Ist er härter geworden oder mainstreamiger?, glatter oder rauher? ist der Sound besser oder anders?, rockt er noch?, das sind so die Kriterien nach denen die erste Kolumne im Zweitwerk hinterfragt wird.
Nun, ich habe mir ein, zwei Gedanken gemacht (siehe Einschub), doch bleibe ich diesbezüglich relativ gelassen, denn ich weiß, die wahre und entscheidende Frage ist eine ganz andere.
Tödlich für die Karriere wäre nämlich nur eins: Wenn das erste Buch einfach zu gut war.
Deine erste Platte darf alles sein außer perfekt. Ist sie gar noch innovativ und perfekt, definiert also sozusagen ein neues Genre, dann ist das schnelle Ende gänzlich unabwendbar.

Einschub: die nun folgende Abhandlung ist nicht lustig und wird vermutlich nur wirklich musikinteressierten Menschen lesenswert erscheinen. In der Singleversion dieser Kolumne, wurde der Part daher auch gänzlich gestrichen. Im Gesamtkontext der Platte hingegen spielt er eine wichtige dramaturgische Rolle, weil es mir darum ging, bereits im opener anzudeuten, wohin die Reise auf diesem neuen Album gehen soll: deutlich mehr Prog-Einflüsse, hier und da auch mal ein sperriger Part oder ein ausgedehnteres Solo. Darauf sollten Sie sich gefasst machen.
Wem Musik größtenteils am Arsch vorbei geht, der kann sich das folgende sparen und direkt zum letzten Absatz skippen, sollte aber auch grundsätzlich sein Glück vielleicht eher bei anderen Autoren suchen...

Zwei wahllos ausgesuchte aber treffende Beispiele für meine oben aufgestellte These möchte ich hier mal etwas näher beleuchten.
Beginnen wir mit den Epsom Mad Funkers, besser bekannt unter dem Kürzel EMF.
Die klassische Kaltstartkarriere: schon wenige Monate nach Bandgründung von Parlophon-Scouts entdeckt, direkt ins Studio gejagt, und nur ein Jahr später in ganz Westeuropa in den Charts und sogar Nummer Eins in den Vereinigten Staaten.
Hauptsächlich wegen einem einzigen Song; einem Song mit der berühmten Killerhook, bei der jeder A&R-Manager sofort mit Dollarzeichen in den glasigen Pupillen vor Freude ums Carré hüpft; einem Song, so einfach und auf den Punkt, dass er noch heute zum Standardrepertoire jedes Ü-30-Disko-Abends gehört: Unbelievable
Nebenbei verkauften die Jungs auch zwei Millionen Alben ihres Erstlingswerks Schubert Dip, und wenngleich EMF ursprünglich, wäre es nach der Plattenfirma gegangen, zweifellos als Teenie-Helden fürs BRAVO-Publikum verheizt werden sollten, so brachten sie doch eine Platte zustande, die nicht nur auch für Erwachsene hörbar war, sondern ganz und gar stilbildend für eine völlig neue Jugendkulturnische, die alsbald als „Rave“ ihren Siegeszug um die Welt antreten sollte. This was new, this was funky, this was weird!
Sänger James Atkin konnte eigentlich überhaupt nicht singen, aber als einer der ganz wenigen, die mit diesem Massenschicksal zu kämpfen haben, gelang es ihm, durch Entwickeln eines ganz eigenen, eher rezitativen, und damit immer im engen, ihm zur Verfügung stehenden tonalen Spektrum bleibenden Stils, diesen Malus zu kompensieren, und zugleich seiner Band damit noch eine ganz eigene Duftnote, also den wichtigen Wiedererkennungswert zu verleihen. Dass er nebenbei nicht versäumte, den Zuhörern z.B. nahezubringen, dass EMF ja auch für „Ecstasy Motherfuckers!“ stehen könnte, zeigt, dass er auch die Klaviatur des Teenagerbeeindruckens zu spielen verstand.
Live zwar nicht wirklich gut, dazu waren sie wohl einfach noch zu jung, aber für das größtenteils noch viel jüngere Publikum ausreichend albern angezogen und immerhin über einen Keyboarder verfügend, der mehrmals während des Sets einfach seine Synthies auf den Boden oder von der Bühne warf.
Menschen unseres Alters und Reifegrads wissen selbstverständlich, dass Keyboarder anstellen können, was sie wollen; sie werden niemals cool sein. Aber Sechzehnjährige meinte man wohl mit derlei Radau noch hinterm Ofen hervorlocken zu können.
Zur Bezeichnung der sich schnell zum Massenphänomen mausernden neuen musikalischen Welle benutzte man seinerzeit auch häufig die etwas ausführlichere Vokabel „Manchester- bzw. Madchester-Rave“. Epsom allerdings ist ein Kaff im Speckgürtel Londons.
Dies ist wiewohl nicht der Grund, warum EMF in diesem Zusammenhang heute, obwohl sie sozusagen die Referenzplatte geliefert hatten, meist gar nicht erwähnt werden. Eher war es die für den guten Ruf grundruinöse Trias aus Teenie-, Chart- und Parvenü-Band, die den Jungs anhing und die einflussreiche Musikpresse sozusagen zu einer kritischen Abwehrhaltung vorverpflichtete. Anders als etwa Happy Mondays, The Farm, Northside und wie sie alle hießen (natürlich schickte jede Plattenfirma im Eiltempo ihre eigenen Bewerber ins Rennen – selbst Blur sind in diesem Umfeld groß geworden – andere wie die Soup Dragons oder die in Großbritannien bis heute nahezu beatleoid verehrten Stone Roses passten sich flugs an, um auf den Zug mit aufzuspringen), galten EMF in Indie-Kreisen niemals als „amtlich“.
Das Ende vom Lied: So schnell wie Epsoms berühmteste Söhne an die Spitze der Hitparaden gestürmt sind, so schnell waren sie von dort auch wieder verschwunden.
Und kamen nie wieder. Denn das ist ja die eigentliche Moral dieser Geschichte: Wenn Du mit deinem ersten vernehmbaren Lebenszeichen bereits alles richtig gemacht hast, dann kannst Du mit allem Nachfolgenden eigentlich nur noch scheitern.
Natürlich schrieben sie nie wieder einen Song, der in puncto Hitpotenzial an Unbelievable heranreichen konnte. Und auch sonst wurden in der Folge paradigmatische Fehler gemacht, wie man sie in ähnlich gelagerten Fällen bis heute immer wieder beobachten kann.
Die zweite Platte, der Anfang vom Ende: Immer schwierig, weil immer unter großem Erfolgsdruck zu meistern; nebenbei meist unter sehr ungünstigen kreativen Rahmenbedingungen – schreiben Sie mal einen weiteren Welthit, wenn Sie gerade im dreizehnten Monat einer anderthalbjährigen Europatournee, noch dazu Ihrer ersten, verfangen im tiefen seelischen Abgrund zwischen morgendlicher Touralltagsdepression und abendlichem Drogenrausch, in irgendeinem Club-Backstageraum in Südnorwegen auf den Soundcheck warten.
Und noch dazu erlagen sie dem auf ewig zum Scheitern verurteilten Versuch, der nächsten Platte ein bißchen mehr „Live-Sound“ zu gönnen. Das Ergebnis klingt dann zumeist so wie Stigma, EMFs zweite. Einfach nur ein kleines bißchen schlechter als die erste. Und wenn die Songs, aus oben vorgeschlagenen oder welchen Gründen auch immer, ebenfalls alle eine Spur schlechter sind, dann hat man es schon verwirkt, und die verheißungsvolle Karriere geht im Rekordtempo den Bach runter. So geschah’s.
Schubert Dip war einfach eine nicht zu schulternde Bürde.
Die Chronistenpflicht gebietet zu erwähnen, dass einige Jahre später noch eine dritte, gänzlich aus dem Ruder gelaufene Platte folgte, nämlich Cha Cha Cha. Hier versuchten EMF, der Rave-Express war längst aufs Technogleis abgebogen, sich musikalisch „weiterzuentwickeln“, freilich ohne den Hauch einer Ahnung wohin eigentlich. Das Resultat ist niederschmetternd und stellenweise fast unhörbar, was aber im Grunde auch schon egal war. Sie hätten statt Cha Cha Cha auch das weiße Album schreiben können – es hätte niemand gewürdigt, weil schon lange keiner mehr hinhörte. Dass sie schließlich ausgerechnet mit einem Cover des Ballaballa-Songs I’m a believer der Monkees einen letzten Hauch von Rampenlicht erheischten, hat schon beinahe etwas von Dorfbierzeltauftritten gealterter deutscher Schlagersänger. Eine traurige Geschichte.

Um kurz in aktuell vielleicht relevanteres Fahrwasser zu wechseln, wage ich jetzt hier mal die Prognose, dass der deutschen, vor einiger Zeit senkrecht gestarteten Combo Wir sind Helden ein ähnliches Schicksal blüht. Zu gut war einfach die erste Platte, zu harm- und mutlos das Folgewerk. Die Halbwertszeit wird etwas länger sein, vermutlich werden sie eine bessere dritte Platte hinlegen als EMF, sie sind ja auch keine reine BRAVO-Band und nicht die Vorreiter einer „Bewegung“, aber der Rauschzustand des Karrierestarts wird sich nie wieder heraufbeschwören lassen. So weit die Prognose.

Man hätte als prominenteres Beispiel eigentlich auch Nirvana ins Feld führen können, aber da hinkt der Vergleich insofern, dass sie nicht wie Phönix aus der Asche kamen, und Nevermind nicht ihr allererstes Lebenszeichen war. Dafür erledigte Kurt Cobain das Scheitern an der Bürde dann um so endgültiger.
Besser ist es offenbar, zum Beginn der Karriere noch eine Weile sympathisch rumzustümpern, sich von Platte zu Platte zu steigern, und erst so mit der vierten oder fünften (der ersten wirklich guten) dann allerdings nachhaltigen Weltruhm zu erlangen. Bis dahin ist die Fanbase gefestigt, die Erfahrung groß genug – aus Fehlern wird man bekanntlich klug – und die Plattenverträge ausreichend langfristig, dass eigentlich nichts mehr schief gehen kann. Vor allem haben sich die Stümperbands durch ihre Stümperjahre die unerlässliche Zugehörigkeit zu irgendeiner Szene als lebenslanges Faustpfand erspielt. Und selbst der Mainstream-Konsument kauft ja am liebsten Sachen, von denen er denkt, dass sie irgendwie auch, äh, „szenig“ sind, gerade weil er selber nie irgendwelchen erlesenen Zirkeln angehörte. Reine Chartbands haben einfach keine treuen Fans.
Die Vorzeigekarriere haben in dieser Hinsicht U2 hingelegt, in Deutschland Die Toten Hosen. Und die Tatsache, dass letztere auf Grund ihrer frühen Platten bis heute von großen Teilen der Bevölkerung als „Punkband“ fehlwahrgenommen werden, macht das oben ausgeführte vielleicht ein wenig anschaulicher.

Ich möchte Ihnen noch eine zweite Geschichte, die in diesen Reigen passt, erzählen, wenngleich in diesem Fall Verkaufszahlen eines weit geringeren Ausmaßes im Spiel sind. Aber es geht mir ja, wie so oft, vornehmlich darum, Sie auf weithin unentdeckte oder sträflich unterbewertete musikhistorische Perlen aufmerksam zu machen. Ihnen die „Rosen im Asphalt“ (Wolf Maahn [achtziger Jahre siehe oben]) zu zeigen, die Augen bzw. Ohren zu öffnen. Ein Mensch mit Hang zur linkischen Ausdrucksweise könnte sagen, ich befände mich „in Missionarsstellung“.
Schauen wir uns also noch eine weitere Band etwas genauer an, nämlich Readymade.
Vier kaum erwachsene Jungs aus Wiesbaden machen eine Indieschraddelgitarrenplatte: It Doesn’t Make Sense. Natürlich nicht stilbildend in diesem Fall, denn sie huldigten ja nur den Göttern einer im angloamerikanischen Raum längst etablierten Szene, aber Mann: Was für ein Kracher! Ohne mich lächerlich machen zu wollen, behaupte ich: Eine bessere Platte aus diesem Genre, und ich besitze „hunderte, ach was, dutzende“ (frei nach Obelix), findet sich in meiner ganzen Sammlung nicht.
Und das wunderschöne Stromgitarre, ein skurriles Instrumental mit einem kurzen gesungenen Part, dessen Text davon handelt, das dieses Stück leider keinen solchen hat, wird bis heute hier und da von guten Indie-DJs mit sardonischem Grinsen durch die Boxen gepfeffert. Stünde das Wort „Indieschraddelgitarrenmusik“ nicht längst im Duden – es müsste eigens für diesen Song erfunden werden.
Als deutsche Band ohne Airplay war die Reichweite von It Doesn’t Make Sense naturgemäß erst mal gering. Jedoch die in der Branche nie zu unterschätzende Mund-zu-Mund-Propaganda wirkte. Die nächste Platte (Snapshot Poetry) durfte also nicht bloß gemacht werden, sie wurde schon heißhungrig erwartet. Wie üblich legten Band und Plattenfirma nun etwas mehr Wert auf die notorische „Radiotauglichkeit“. Ein Song ward gar als Titelmusik für einen Uwe-Ochsenknecht-Film ausgewählt und eine Tour mit den ungleich erfolgreicheren Sportfreunde Stiller stand vor der Tür.
Dies ist genau der Moment in der Vita einer Band, wo Du denkst: Jetzt geht’s endlich richtig los!
Allein, nichts ging los.
Der Film floppte, die Tour wurde zu 97% von Teenagern besucht, die sich ausschließlich für die Sportfreunde interessierten, und das deutsche Formatradio blieb trotz designierter Smash-Hits wie D-major Day und Supernatural weiter immun. Schlimmer noch: die treuen Fans der ersten Stunde waren etwas enttäuscht vom Übermaß der Balladen, ein wenig mehr edge hätte man dem Album schon gewünscht.
Doch noch ging es ja ein paar Jährchen weiter. Und immer war man „ganz nah dran“ (Morgenrot). Es durfte ein weiteres Mal mit den inzwischen zum Establishment gehörenden Sportfreunden getourt werden, die ein oder andere Split-EP mit artverwandten Bands sprang auch heraus (dummerweise erschien ausgerechnet das furchtbare Ultravox-Cover Dancin‘ With Tears In My Eyes auf einem sehr gut verkauften VIVA-Fast-Forward-Sampler), und für die dritte Platte (The Feeling Modified) wurde endgültig zum großen Wurf ausgeholt: Studio in England, Streicherarrangements, Synthieteppiche, eben das ganze Mastschwein gehen, wie man ebenda zu sagen pflegt.
Leider alles schlechte Ideen!
Studio in England? Für die Musiker vielleicht ein Traum, für die Crew vor Ort vermutlich: „Next three weeks we‘ve got these Germans. Never heard of them. All the indispensable persons, please take your holidays now!“ Die Produktion entsprechend lauwarm und lieblos. Kurz: keine schlechte Platte, dafür war Zach Johnson ein zu begnadeter Songschreiber, aber erneut ein kleines bißchen schwächer als das Vorgängeralbum. Die Audiomedien ließen sich immer noch nicht becircen, typischerweise wird in solchen Situationen auch noch irgendeiner aus der Band nebenbei Vater oder so, und also kam was kommen musste:
Split! Over! Alles für die Katz! Trauriges Ende einer der vielleicht talentiertesten Bands, die sich in Deutschland jemals gründeten. Nie talentiert genug für den Mainstream, dafür fehlten Zach auch einfach die Stimme und das live-Charisma, aber mit ausreichend Vermögen, um einer erklecklichen Zahl von wirklichen Musikliebhabern über Jahre hinweg Freude zu bereiten – wären die Gesetze des Musikmarktes andere und diese Geschichte ein wenig glücklicher verlaufen.

EMF hatten sich wenigstens anderthalb Jahre am Ruhm der Glamourwelt laben dürfen, Readymade haben allenfalls für Sekundenbruchteile daran geleckt.
Spaß gemacht hat’s, das sei bei aller Tragik nicht vergessen, vermutlich trotzdem – Musiker sein ist so oder so immer noch eine der schönsten Beschäftigungen, denen ein Mensch im Leben nachgehen kann.

Lange Rede, kurzer Sinn: ich hoffe, mein erstes Buch war nicht so supertoll.
Eher sympathisch stümperhaft eben.
Um ehrlich zu sein: genau so schätze ich selbst es ein, deshalb mache ich frohgemut weiter. Rechnen Sie also mit mir. In vier, fünf Jahren werde ich unter dem derzeitigen Arbeitstitel „Der Baum des Propheten Josua“ eine Kolumnensammlung abliefern, die ihresgleichen sucht, und dann können Sie allen sagen: „ich kenn den schon von den allerersten Demos damals im SuperLupo“, können mit Mukkefuck-und-Schrippen-T-Shirts zu meinen ausverkauften Lesungen kommen, um dem Pöbel zu zeigen, dass Sie verdammte Fan-der-ersten-Stunde-Credibility haben, und ich werde Sie im Gegenzug verschonen, wenn ich zum Höhepunkt der Show ein Mädchen aus der Menge zerren lasse, mit der ich auf der Bühne Blues tanze. Stattdessen werde ich anschließend backstage mit Ihnen ein paar Gläser Apfelwein trinken, und Sie, vermutlich durchaus ernstgemeint und interessiert, nach Ihrer Meinung zu dem neuen Meisterwerk befragen.

Übrigens: Fast alle Menschen, denen ich bislang mein Buch überreichte, haben nie wieder ein Wort darüber verloren. Das könnte man als, mir gegenüber dezentes, Unmutsäußerungsunterdrückungsverhalten deuten, aber für so schlecht halte ich mich gar nicht.
Ich glaube eher, dass es einfach keiner gelesen hat.
„Alder, hasdu Buch geschriem? Cool, stell isch in mein Regal. Abä hassdu auch Webbsaid?“
Ja, habe ich:
http://www.djlenin.de




Downloads (sofern verfügbar) zur didaktischen Ergänzung des Lehrmaterials:

Grobschnitt – Silent Movie und Illegal (aus dem Album Illegal)
Grobschnitt – Die Kinder ziehen zum Strand (aus dem Album Kinder und Narren)
EMF – Children, I Believe und Admit It (oder jeden anderen Track aus dem Album Schubert Dip)
EMF – Blue Highs, Getting Through und Dog (aus dem Album Stigma)
Readymade – All These Things, Stromgitarre und When I Grow Up (oder jeden anderen Track aus dem Album It Doesn’t Make Sense)
Readymade – D-Major Day, Supernatural und A Massive Overdose of Communication (aus dem Album Snapshot Poetry)
Readymade – The Graduate (aus dem Album The Feeling Modified)
Readymade – Sushi in Tokyo (von der Single The Graduate)
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FinnCrisp
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Re: unverlangt eingesandte (Kolumnen-)Manuskripte

Beitrag von FinnCrisp »

Fäden und Filinchen - eine Revuepassierlassung

Manchmal, wenn ich mit meinen imaginären Enkeln am Kamin im Baumarkt sitze, fragen mich die Rangen: "Du, Opa FinnCrisp, wie war das damals eigentlich in der DDR? Wart ihr da immer am FKK-Strand und habt Letscho gegessen?" Dann sage ich: "Hört mal zu! Klar war vieles schlecht in der Ostzone, aber vieles war auch gut - das waren Werte, das war die Rolle der Mutter, das waren die Autobahnen ... nee, Quatsch."
Sicher, es herrschte immerfort Mangel. Deprivation aufgrund misslungener Planwirtschaft. Die Bürger hätten ja schon viel eher revolutioniert, aber es gab jahrzehntelang keine Transparente. Im Speisesegment existierten einige wenige Highlights: Nudossi, Leckermäulchen, Bambina und Filinchen. Letzteres ist eine Art FinnCrisp, das zwei Stunden im Wasserbad gelegen hat. Auch unterhaltungstechnisch sah's eher mau aus. Die Zeitschrift "Mosaik" war wohl das anspruchsvollste und gediegenste Printerzeugnis. Im Fernseher kam auch kaum was. Am furchtbarsten waren die Fadentrickfilme. Man stelle sich vor: weiße Fäden wurden vor einem schwarzen Hintergrund per Stop-Trick-Technik zum Leben erweckt und agierten in Geschichten von minderer Qualität.
Seltsamerweise stand meiner Familie meistens genügend Westgeld zur Verfügung, welches im sogenannten Inter-Shop (dort roch es geil!) gegen Angebersachen eingetauscht werden konnte. Deshalb waren zumindest die Heiligabende recht gut; die Schallplatten "Weihnachten im Erzgebirge" und "Weiße Weihnacht mit Wolfgang Lippert" trugen indes nicht dazu bei.
Irgendwann kam die Wende. Ich war in der dritten Klasse und schon Jungpionier. Die Pionierskluft hatte ich erst zwei Mal getragen - zum Glück, denn das Halstuchbinden war eine Qual! Es war nämlich keineswegs so, dass die Kinder fortwährend politisch indoktriniert wurden. Die Ausrichtung von "Pioniernachmittagen" oblag allein den Klassenlehrern, allenfalls ein "Appell" stand zu wichtigen Terminen an. Als das realsozialistische Experiment beendet war, hielt eine neue Pausenbeschäftigung in den Schulen Einzug: eine Variante des Fange- oder Haschespiels, bei der man sein Opfer berühren muss und sagt: "Jetzt hast du Aids!" Haha. Den Rest hab ich vergessen.

PS: Das war eine ganz schön kurze Kolumne. Wie lange braucht man denn, wenn man so viel Text fürs Internet schreibt wie Herr Lenin?
I drove downtown, scanning the alleys until I saw a rail-thin Mexican kid standing by a dumpster wearing a St. Louis Rams jacket. The kid was wearing the jacket, not the dumpster.
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lenin
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Re: unverlangt eingesandte (Kolumnen-)Manuskripte

Beitrag von lenin »

man schreibt ja gar nicht für's Internet, Herr Finncrisp, man schreibt für Freunde und für's nächste Buch, kurz: für ein selbstzurechtgewünschtes, imaginäres Publikum. Wenn's halbfertig ist, macht man irgendwann Steuerung C und Steuerung V und dann steht's auch hier.
Nebenbei, size does bekanntlich not matter, und Ihre Kolumne ist sehr gelungen. Längere Texte werden im Internetzeitalter von den meisten sowieso nicht mehr gelesen (siehe letzten Absatz der obigen Kolumne von mir).

Da Zuhören noch eher geht (Eventcharakter und so), sei allen Wussowianern aus dem Dunstkreis Frankfurt noch mal meine Lesung ans Herz gelegt, welche kommenden Samstag, den 29.09. gegen 20:00 Uhr im "Celsius" in Frankfurt-Bockenheim (Leipziger Str. 69) stattfindet. Kleine Prognose des Künstlers: Saal leer, aber Publikum gegen Ende voll.
Und das ist das ist doch immerhin auch schon was...
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