unverlangt eingesandte (Kolumnen-)Manuskripte

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lenin
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unverlangt eingesandte (Kolumnen-)Manuskripte

Beitrag von lenin »

Lenins Alte sieht aus wie 'ne Klofrau

Vor wenigen Tagen fand ich mich im schönen Heidelberg wieder, besuchte, wie es sich für einen Heidelberg-Besucher gehört, zuallererst das Schloss und wandelte alsbald im Schlossgarten Lust. Vor dem Neptun-Springbrunnen, ein Denkmal des nackend-badenden Neptun inmitten sprudelnder Fontänen, hielt ich inne und lauschte folgendem Dialog eines offenbar ortsfremden Mädchens mit ihrer offenbar einheimischen Freundin:
Die Gästin (auf Neptun deutend): „Ist das der Sepp’l?“
Die Einheimische: „Nein, der Sepp’l ist eine Kneipe in der Altstadt.“
Amüsiert schlich ich von dannen, dem Weltgeist dankend für diese nachgerade paradigmatische Gesprächssequenz. Paradigmatisch für die Art und Weise wie unsere partygesteuerte Welt dieselbe inzwischen wahrzunehmen pflegt.
Beim berühmten Städtegespräch, welches Menschen als gängigen Ersttalk mit Fremden auf Festen zu führen pflegen, spielen sich nämlich meist solcherart Dialoge ab:
„Warste schon ma in Hamburg?“
„Klar. Schanze. Pudelclub. Endgeil.“
„Kannsdich noch an die Betty-Ford-Klinik erinnern? Das war’n Laden!“ usw.
Mitnichten hört man auf Parties die Antwort:
„Oh ja, die Speicherstadt ist so groß und erhaben. Der Renaissance-Prunk des Rathauses wusste mir gleichermaßen zu imponieren. Und die Innenalster – einfach himmlisch pittoresk.“
Reden die Menschen über Berlin, so reden sie nicht mehr, wie in den Achtzigern, über Mauer, Sozialismus und Bundeswehrflucht, sondern diskutieren, ob nun gerade Friedrichshain oder gar Lichtenberg oder gar wieder das olle Kreuzberg der hipste Stadtteil ist. Erwähnt wer den Reichstag, dann geht es nie um das Bauwerk, sondern allerhöchstens um die irre Schlange davor. Nicht der Dom ist das Wahrzeichen von Köln, sondern die Zülpicher Str., und dass man dort neben dem RoseClub auch zwölf romanische Kirchen besichtigen kann, wissen für gewöhnlich nicht mal Einheimische. Manche Lokalitäten haben wahren Klassiker-Status, es reden auch Menschen über sie, die noch niemals dort waren: der Mexikaner in Köln z.B. oder - gleichsam die Mutter allen Club-Gewäschs - das WMF in Berlin.
Freunde von mir spielten mit ihrer Band in einer der schönsten Städte der Welt, in Wien, und berichteten hinterher, es habe dort ausgesehen wie in Fechenheim (Industriebezirk in Frankfurt). Die Konzerthalle befand sich wohl etwas außerhalb. Meine Frage, ob sie denn nicht Lust verspürt hätten, sich, wenigstens mal kurz, die Sehenswürdigkeiten der Stadt anzuschauen, sorgte für Ratlosigkeit. Ähnlich ergeht es einem, wenn man mit Stewards oder Stewardessen spricht. Die haben oft schon die halbe Erde bereist und kennen nichts außer Flughäfen und Hotels.

Nicht dass sie mich falsch verstehen. Ich beklage diesen Zustand nicht. Ich bin ja nicht der Kultur-Kolumnist der Frankfurter Allgemeinen oder schreibe das Editorial für Chrismon.
Ich sehe es als Beleg für das angenehm bewegte Leben der heutigen Jugend. Dafür, dass die Jugend das macht, was sie am besten kann, nämlich gut aussehen, feiern und Menschen des anderen Geschlechts toll finden. Geschmack kommt mit dem Alter.
„Lasst die Kinder doch Rock’n’Roll!“ sang die Spider Murphy Gang, aber diese Band kenne ich selbstverständlich nicht.
Debil wird es erst, wenn sich diese Ignoranz mit zunehmendem Erwachsenwerden nicht bessert. Wenn man mit 35 immer noch nur dann andere Städte bereist, wenn dort der geliebte Heimatfußballverein ein Auswärtsspiel bestreitet. Denn siehe: Sehenswürdigkeiten sind meist sehenswert. Nomen est tatsächlich omen. Und selbst hässlich beleumundete und mit dem Stigma gähnender Langeweile behaftete Städte wie Lenins Wohnort Frankfurt, können mit etwas Auge, gehenden Fußes bereist, durchaus becircen.
Nicht-Frankfurter Gäste werden von mir für gewöhnlich zu einer mindestens zweistündigen Stadtbegehung genötigt, und sind hinterher meist stark beeindruckt: „Mann, das ist ja echt schön hier! Ich dachte immer hier gibt’s nur Kriminelle und Drogenopfer.“
Natürlich nehmen diese Menschen dann auch ein Trugbild mit nach Hause, denn tatsächlich ist Frankfurt nicht viel besser als sein Ruf. Zwar gibt es viele beeindruckende Bauten, aber das ist halt nicht alles. Eine Stadt braucht vor allem Flair, und das Flair wird stark von den dort lebenden Menschen beeinflusst. Deshalb schneiden z.B. Studentenstädte wie Freiburg, Marburg, Heidelberg oft so überdurchschnittlich gut ab in „urban rankings“.
In Frankfurt wohnen zu viele Idioten und zu viele Alte. Die Alten sitzen zu Hause vorm Fernseher, deshalb ist Frankfurt nachts oft gespenstisch menschenleer.
Die Restbevölkerung teilt sich in drei Gruppen. Sie besteht zu einem Viertel aus Alkohol- und Drogensüchtigen, zu einem Viertel aus Rucksackdeutschen – Verzeihung Russlanddeutschen - und EU-Osterweiterungsmenschen und zur Hälfte aus Bankern und Versicherungsangestellten. Rockt null.
Die Alkohol- und Drogensüchtigen stehen bei Penny an der Kasse und pöbeln. Wenn sie gerade eine Pöbelpause machen, führen sie charmante Dialoge wie den folgenden:
Säufer 1 (in zittriger Hand ein Sixpack Chantré, den Vordermann in der Schlange antippend): „Eh, du, kannsmich vielleich vorlassn?“
Säufer 2 (mehrere Flaschen Rotwein und diverse Schnäpse im Wagen): Nee, sorry, ich hab’s auch grad’ voll eilig.“
Tja, Termine, Termine! Solidarität scheint mir unter Suchtkranken ohnehin ein absolutes Fremdwort zu sein. Der durchschnittliche Suchtkranke ist ungefähr so solidarisch wie der Junkie in „Christiane F.“, der über die Klokabinentrennwand springt, um ihr den fertig vorbereiteten Schuss zu klauen. Immerhin vermitteln sie unsereins beim Blick in den eigenen, mit Alkoholika prallgefüllten, Wagen die beruhigende Erkenntnis, was für ein durch und durch bürgerliches Wesen man doch immer noch ist.

Die EU-Osterweiterungsmenschen durchleben zwei Existenzphasen: In der Jugend stehen sie in Kleingruppen schweigend auf der Straße rum, halten Maulaffen feil, schauen bemüht böse drein und rotzen alle zwei Minuten auf den Boden. Als Erwachsene eröffnen sie einen Tele-Shop und dekorieren ihre Schaufenster mit hässlichen Klebebuchstaben.
Und die Banker: no need to mention.
Aber in jeder noch so abgewichst anmutenden Stadt gibt es Perlen zu entdecken, wenn man sich nicht nur bei der Suche nach dem angesagtesten Club aufreibt. Selbst in Wuppertal und vielleicht sogar in Offenbach kann man fündig werden

Auch in Heidelberg ließ sich viel interessantes entdecken: Während meine bezaubernde Begleiterin im Heidelberger Schloss den Abort aufsuchte, und ich davor auf sie wartete, kam sofort eine chinesische Rentnerin auf mich zu, um mir 30 Cent Toiletten-Entgelt in die Hand zu drücken. Hinter ihr kramten bereits Tausende weiterer Ostasiaten in ihren Portemonnaies. Ich hätte das Geschäft meines Lebens machen können. Angesichts Abermilliarden potenzieller, schlitzäugiger Heidelberg-Touristen spiegelten sich bereits trickfilmmäßig die Dollar-Zeichen in meinem Blick. Allein mein glühender Altruismus ließ mich zaudern und die Blasenschwachen großmütig durchwinken. (In Wirklichkeit waren bei dieser Episode die Geschlechterrollen andersrum besetzt, ich habe es aber sorum erzählt, damit sie nicht auf so böse Gedanken kommen wie: „Harhar, Lenins Alte sieht aus wie ne Klofrau, bruhaha“)
Ferner gibt es in Heidelberg eine Punkerstr. Sehenswürdigkeiten müssen nämlich nicht unbedingt im Reiseführer stehen. Man kann sich auch selber welche basteln. So machten wir in der Punkerstr. die Probe aufs Exempel, der Befund war jedoch erwartet ernüchternd: Man trifft dort genauso wenig Punker wie im Elisabethenstift zu Altötting. No Future!
Sehenswürdigkeiten in Heidelberg tragen so klingende Namen wie „Philosophenweg“, „Molkenkur“ oder die berühmte „Heidelkirche“. In meiner persönlichen Hitliste der Städte, in denen ich lieber wohnen würde als in Frankfurt, steht Heidelberg ca. an vierter Stelle. Die Hitliste präsentiere ich ihnen hier allerdings nicht, denn derlei Listen haben seit „High-Fidelity“ etwas abgeschmacktes, heißt es.

Eigentlich ist die Kolumne hier zu Ende. Ich habe jedoch noch ein kleines Experiment gemacht, welches für angehende Nachwuchskolumnisten unter ihnen nicht ganz uninteressant sein dürfte: Ich habe den Text zweimal Korrektur gelesen. Beim ersten Mal so wie immer, beim zweiten Mal habe ich ein Schälchen mit Heidelbeeren gegessen, um zu untersuchen, ob der Genuss von Heidelbeeren einen Text über Heidelberg nachhaltig beeinflusst. Die Ergebnisse des Experiments sind allerdings zu heiß, um sie hier ungeprüft vorschnell der Öffentlichkeit preiszugeben. Da kommt noch etwas zu auf die Kolumnistenwelt.
Als Ersatz für diese geheimgehaltenen Ergebnisse, verrate ich den Nachwuchsschreibern allerdings noch einen Standard-Trick der Kolumnistenbrut: Oft erscheinen wir ach so belesen und weitgereist, doch natürlich ist vieles bloß Schmuh. Nehmen sie die Geschichte mit der Punkerstr. Natürlich reicht ein Stadtplan von Heidelberg gepaart mit dem ausladend voluminösen Sack Lebenserfahrung, den der Kolumnist mit sich rum trägt, um den Rest der Geschichte zu erfinden. Doch Schluss mit bohèmem Schlaubergertum.
Ich hoffe, sie künftig offenen Auges deutsche Landen bereisen zu sehen.
„Komm, komm, komm, komm! Komm nach Hagen!“ (Extrabreit)

P.S.: wer an der oben gewählten Formulierung „Alkohol- und Drogensüchtige“ besserwisserisch herumhaarzuspalten gedenkt, den schimpfe ich schon Mal prophylaktisch einen Blödian: „Sie Blödian!“
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Re: unverlangt eingesandte (Kolumnen-)Manuskripte

Beitrag von hessen-wohin »

lenin hat geschrieben:Nehmen sie die Geschichte mit der Punkerstr. Natürlich reicht ein Stadtplan von Heidelberg gepaart mit dem ausladend voluminösen Sack Lebenserfahrung, den der Kolumnist mit sich rum trägt, um den Rest der Geschichte zu erfinden.
Johnnie, bitte überprüfen Sie das mit der Punkerstrasse. Wehe, es wimmelt dort nur so von Punkern. Bzw. Punks
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Louis Antoine Saint-Just
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Re: unverlangt eingesandte (Kolumnen-)Manuskripte

Beitrag von Louis Antoine Saint-Just »

hessen-wohin hat geschrieben:
lenin hat geschrieben:Nehmen sie die Geschichte mit der Punkerstr. Natürlich reicht ein Stadtplan von Heidelberg gepaart mit dem ausladend voluminösen Sack Lebenserfahrung, den der Kolumnist mit sich rum trägt, um den Rest der Geschichte zu erfinden.
Johnnie, bitte überprüfen Sie das mit der Punkerstrasse. Wehe, es wimmelt dort nur so von Punkern. Bzw. Punks
Ich bin zwar nicht Johnnie, aber ich lebe auch in der Nähe von Heidelberg und kann aus eigener Anschauung versichern, daß nicht nur die Punkerstraße, sondern auch die direkte Umgebung weitgehend punkerfrei (punkfrei?) ist. Erfolgversprechender wäre eventuell der ca. 200m entfernte Rohrbacher Markt; allerdings wäre hier ein Auftreten von Punks nicht mehr kolumnenwürdig.

LASJ
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Johnnie
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Beitrag von Johnnie »

die punkerstr. ist tatsächlich ein ganz eigenes heidelberger kapitel. wie der name entstanden ist, kann man sich wohl denken; ebenso, was für einrichtungen sich dort befinden. der heidelberger an sich spricht nicht gerne von der punkerstr.; fragt ein fremder danach, schaut man betreten auf die füße und verweist auf die schönheit und sehenswürdigkeit des schlosses.

es verhält sich mit der punkerstr. ähnlich wie mit der berühmten "heidelkirche" (bis 1487 noch "st. paulus-kirche"): ich kenne sie nicht, habe nie davon gehört und möchte auch nicht weiter darüber sprechen.
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Louis Antoine Saint-Just
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Beitrag von Louis Antoine Saint-Just »

Johnnie hat geschrieben:der heidelberger an sich spricht nicht gerne von der punkerstr.; fragt ein fremder danach, schaut man betreten auf die füße und verweist auf die schönheit und sehenswürdigkeit des schlosses.
Womit ich zumindest glaubwürdig bewiesen habe, daß ich hier sowieso nur zugezogen bin.

LASJ, der die Heidelkirche aber auch nicht kennt. Nur eben die Punkerstraße.
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Johnnie
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Beitrag von Johnnie »

Lois Antoine Saint-Just hat geschrieben:Womit ich zumindest glaubwürdig bewiesen habe, daß ich hier sowieso nur zugezogen bin.
das bin ich auch, und in den fünf monaten die ich hier in der stadt der blasmusik wohne, habe ich selten genug die altstadt verlassen um zwar keine ahnung von der punkerstr. (noch nicht einmal vom rohrbacher markt), dafür aber die arroganz und überzeugungskraft der altstädtler zu haben, die mir erlaubt, lenins kolumnistentheorie noch zu vereinfachen.
lenin hat geschrieben:Natürlich reicht ein Stadtplan von Heidelberg (...) um den Rest der Geschichte zu erfinden.
E Chue esch es Tier mit vier Bäi und zwäi Hörner. Chüe sind meischtens brun, es git aber äu tschäceti. Chüe gänd Milch, Chälber chame au schlachte und dänn ufässe.

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Beitrag von General Amnestie »

Lieber Herr lenin
vielen Dank für ihre Mühe.
Ich habe ihren Strang in das Kulturforum einkaufen lassen. Hoffentlich gelingen ihnen oder auch anderen noch ähnliche Max Goldt Imitationen.
Ab jetzt verlangt eingesandt.
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lenin
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Beitrag von lenin »

ja es wird weitergehen.
Eigentlich ist die neue Kolumne auch schon fertig. Um sie jedoch nicht der dann naheliegenden Kritik auszusetzen ("Ein Schnellschuss! Er hätte sich etwas mehr Zeit nehmen sollen" etc.) werde ich noch ein paar Tage mit der Veröffentlichung warten.
Soweit der Werbeblock.
Schimpfen sie mich nicht einen Egozentriker. Es gibt im Moment soviel zeitraubenden Mumpitz im Forum, dass man anfangen muss, um Aufmerksamkeit zu buhlen. Scheint mir.
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Die ganze Wahrheit über Platzhalter

Beitrag von lenin »

Die ganze Wahrheit über Platzhalter

Der Kolumnist hat Bekannte, klar. Die Kolumnistenbekannten kommen hin und wieder an, händeringend und mit Schaum vorm Mund, und äußern Wünsche: „Mach doch mal was über Platzhalter!“ Also, sie sagen natürlich nicht: „Mach doch mal was über Platzhalter“, sondern Platzhalter fungiert in dem vorderen Satz als ebensolcher für wahlweise „Radfahrer contra Autofahrer“, „Weiber“, „Politik“ usw.
Aber, „ach“, muss ich den Bekannten dann erklären, „wisset: Als Mensch mit Rückgrat kann ich bei gewissen Dingen nicht umhin, immer und immer die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu schreiben. Politik, z.B., ist ein sehr, sehr weites Feld. Und seiet euch überdies gewahr: Jeder einzelne meiner Verse ist ganz und gar und durch und durch politisch.“
Über manche Themen weiß ich zu viel, oder sie sind mir am End’ zu ernst und wichtig, als dass sie dem bohèmen Kolumnieren eignen.
Themen, die ihn wirklich bewegen, nähert sich der Kolumnist nur äußerst ungern – zu groß ist die Gefahr, dass das Geschriebene am Ende verbissen klingt, verbiestert gar, und die überlegene Überheblichkeit droht umzuschlagen in kleinbürgerliches Gemecker. Also meide ich diese Themen noch zwei, drei Jahrzehnte.
Dinge, die ihm ernst sind, gehören nämlich in des Kolumnisten Spätwerk. Dann ist er Ehrenvorsitzender des deutschen Kolumnistentages, seine Bücher laufen nicht mehr ganz so gut, das Feuilleton lobt ihn zwar noch, denn alte Meister sind unantastbar, aber die Kollegen wispern hinter vorgehaltener Hand, an einigen Themen im letzten Buch habe er sich wohl ein bisschen verhoben, die Eleganz und Leichtigkeit des Frühwerks sei irgendwie flöten, es schmecke ihm wohl nicht, dass er etwas an den Rand des Spielfelds etc.etc.

Andere Sachen, die mir relativ egal sind, gehen besser. Beispielsweise bekam ich unlängst jenes förmliche Gesuch zugetragen: „Mach doch ma was über Werberspastis!“
Nun, gerne. Das Leben ist zwar im Allgemeinen kein Wunschkonzert, heißt es, aber wenn man mich so lieb bittet.
Übrigens wird ihnen aufgefallen sein, nicht allein aufgrund der fragwürdigen Wortwahl, dass die Kolumnistenbekannten nicht für zwei Groschen besser sind als der Rest der Welt:
Sanguine Lüsternheit und boshafte Niedertracht bewohnen ihre schwarzen Seelen. Es geht immer um irgendeine Feindbild-Zielgruppe, die „schon lange mal ne Abreibung verdient hat“ und die ich, Lenin, die Inkarnation des Philanthropen, dann „mal ordentlich in die Pfanne hauen“ soll. Ergo muss ich mich fügen.
Obschon ich es selbstredend präferierte, in funkelnd perlenden Satzreihen zu schwelgen, tagein tagaus in schmachtenden Jamben, die einen Hauch von Myrrhe und Lavendel tragen, saftige Blumenwiesen und die betörende Schönheit Salomés zu besingen - der Leser will Köpfe rollen sehen.
Also Werber.
Im Grunde ist die Sache erst mal unspektakulär: Werber sind Menschen, die an einer der Schlüsselpositionen zum reibungslosen Funktionieren des Kapitalismus sitzen, etwa so wie Banker. Die einen schmieren halt die Herstellung all der überflüssigen Produkte, die anderen den Verkauf. Werber gehören also mit zu den Hauptverantwortlichen des vielleicht gröbsten Missstands unserer Zeit: Dass arme, unschuldige Menschenkinder Tag für Tag einer sinnentleerten, fremdbestimmten Arbeit nachgehen müssen, nur damit sich Hirnis worldwide Unmengen von Tand einkaufen können.
Das allein ist zwar schlimm genug, aber noch nicht der wahre Grund für meines Bekannten Unmut. Während nämlich all die Banker, Unternehmer, Versicherungsheinis etc. sich für gewöhnlich brav in das für sie vorgesehene Lebensmuster einfügen (CDU wählen, Familie gründen, Nichtrauchen usw.); während diese also in einer Art Paralleluniversum leben und daher auch durch einfaches Ignorieren mehr oder weniger rückstandlos vom zerebralen Scanner der Störfaktoren entfernt werden können, glaubt der Werber, für ihn sei ein anderes Lebensmuster vorgesehen.
Irgendwie hat er spitzgekriegt, dass die Mädels mehr auf die Jungs von der Band stehen als auf die Jungs mit der Banklehre. Also behauptet er von sich, einen „Creativberuf“ auszuüben. Wohl ist auch ein Werber kreativ in einem profanen Sinne von Spontaneität, wozu es aber lediglich der biologischen Grundausstattung eines homo sapiens bedarf. Der Werber aber fühlt sich kreativ im Sinne von „künstlerisch kreativ“, und just mit diesem Gedanken liegt er halt komplett neben der Spur. Denn, wie jedes Kind zu berichten weiß: Die Seele der Kunst ist die Transzendenz! Das Werk des Werbers bloß die Petrifizierung des Immergleichen.
Unglücklicherweise liest der Werber nicht so viel Adorno. Er liest (aus „beruflichen- und Fun-Gründen“) die BILD-Zeitung.
Und abends, wenn der Teufel es will, deine Kolumne.
Dann erzählt er dir auf der nächsten Party, „deine Schreibe ist echt funky“, und aus dir könne noch mal was werden (meint: in der Creativbranche). Dann musst du ihn beiseite nehmen und wie folgt zu ihm sprechen:
„Höre, mein Sohn: Dünkest dich kreativ und bist doch bloß ein armseliger Büttel des Schweinesystems, ein jämmerlicher, willfähriger Handlanger der ausbeutenden Klassen, glaubest du, solch Tor zu sein, sei vorstellbar mein Begehr?“
Krönen kann man diese Zurechtweisung u.U. mit einem, an Oscar Wilde gemahnenden, typisch britischen Aphorismus, etwa: „And now go to where the pepper grows!“

Oder man sagt einfach nichts und gesellt sich wieder zu den Jungs von der Band.
Mit denen kann man dann 1a-Party-Gespräche inszenieren.
Man kann sich z.B. überlegen, welches wohl das lustigste Lied der Welt ist.
„Das Lied von Manuel“, rufen dann fix die Vorlauten und stimmen sofort den Kinderchor an: „wir kennen deine Stimme, wir kennen dein Gesicht, aber mögen mögen wir dich nicht.“ Dieses Lied hat seinen Favoritenstatus auch sonst nicht ganz von ungefähr. Es enthält goldene Zeilen wie „Das ist der Junge aus Kastilien und der wohnt im Neubaublock mit seinen Eltern“. Und ein Mitglied des besagten Kinderchors war Anke Engelke.

Es geht also um Lieder, deren Witzischkeit nicht als solche intendiert war.
Menschen meiner Generation lachen gerne lauthals über BAP. Das liegt daran, dass sie als Jugendliche alle BAP gehört haben und heute, von diesem vermeintlichen biographischen Malus öffentlich sich reinzuwaschen, erpicht sind. Fürwahr, diese Sprache ist komisch: „keenminschdernsirenejetjitt!“ und so.
Wobei jedoch, über BAP zu lachen, fast schon wieder zu Mainstream ist, als das es mir recht gefallen mag. Mit dem Abstand von zwanzig Jahren sage ich: Diese Band hat mindestens zwei herzergreifende Balladen produziert (Bahnhofskino, Sendeschluss), die gut finden zu dürfen, ich hiermit ersuche.
Und kennen sie Der Verrräter von Dschinghis Khan? „Du Schuft! Du Judas!“ Schön.
Chancen haben auch Sachen, die schon lustig sein sollten, dies aber auf so mitreißende Weise nicht waren, dass es auch schon wieder ein Plaisir ist. Hier wird man in der einst als Fun-Punk titulierten Ecke häufig fündig. Ich schicke die Band Schließmuskel ins Rennen:
Wir sind die Pornokonsumenten, wir sind die Pornokonsumenten,
und wir wixen uns’re Prengel, so lang bis sie erglüh’n
.“
Erglün hießen mal Nachbarn von mir (Zafer und Gülay), ob die den Song auch kannten? Unsere Großväter haben ja immer vom Krieg erzählt. Obige Opas in spe müssen ihren Enkeln dann irgendwann mal verklickern, dass sie damals bei, äh ähm, Schließmuskel...

Eigentlich mit ihrem Gesamtwerk kandidiert die deutsche Krautrockformation Franz K.
Ihre Lieder tragen Namen wie Gewalt ist Schitt („der Klaus ist Dreher und sein Meister nimmt ihn ganz schön ran“) oder Randale („Ran-Ran-Randale, das geht mir langsam auf den Zwirn.[sic!]“). Franz K. hatten sich, wie wir Trivial-Pursuit-Spieler wissen, nach Franz Kafka benannt. Es übersteigt unsere literarische Phantasie, unter welch körperlichen Qualen sich ebenjener Kafka wohl im Grabe wälzte, wenn Lieder seiner Namensvetter in den Hades drangen. Hades daran gelegen, dass er log, als er siebzehn war? Der kleinen Lüge ewige Sühne? Nachgerade kafkaesk.
Womit wir wieder bei der Wahrheit wären.
[Dies ist der Punkt, an dem ich sie, einem ehernen Kolumnistengesetz zu Folge, zum Ende des Textes hin, in einer waghalsigen Wende wieder zurück an den Anfang katapultieren muss.]
Wollt ihr die Wahrheit hör’n? Nein!!
skandierten Die Ärzte, und das ist dann, entgegen dem LP-Titel, eben doch schon
„die ganze Wahrheit“.
Denn in ew’ger Suche wird sich ergehen, wer jene in der öden Wirklichkeit zu finden trachtet. Einzig und allein in der Kunst ist ihr Platz, dort ist sie aufgehoben und gleichsam stets aufs Neue geboren.
Wollen sie also wirklich die ganze Wahrheit über Platzhalter erfahren, so bleiben sie einfach dran!
Denn hier wird sie stehen. Genau hier.
In zwei, drei Jahrzehnten.
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hessen-wohin
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Beitrag von hessen-wohin »

Ja, nun... sind aber die coolen Jungs aus der Band nicht genauso oft ein Ärgernis wie die coolen Jungs aus der Werbebranche? Ich weiss ja nicht, aber diesen Verdacht habe ich manchmal!
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lenin
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Beitrag von lenin »

Ja, ich nehme Forumspflichten ernst. Auch, wenn es sich, wie hier, um eine selbstauferlegte handelt. Und darum erscheint hier in wenigen Minuten ein neuer Eintrag. Bevor sich Herr Lenin für einige Zeit in einen wohlverdienten Kolumnistenurlaub zur Erholung seines Kurzzeitgedächtnisses zurückzieht...
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Lenin hat nichts drunter

Beitrag von lenin »

Lenin hat nichts drunter
(endlich ein Text, der unter die Gürtel- und über die Sauerlandlinie geht)



Von den zwei, drei Dutzend angeborenen Absonderlichkeiten des weiblichen Geschlechts, finde ich einige störend, die meisten langweilig und einige faszinierend.
Zu letzteren gehört der Wasseraufdreh-Sprechzwang, also das Phänomen, dass Frauen immer dann beginnen zu reden, wenn man soeben die Dusche oder den Wasserhahn aufgedreht hat. Bekanntlich hört man wenig anderes, wenn einem gerade der eiskalte morgendliche Strahl das Katerköpfchen kühlt. „Was?“, brüllt man zurück, und dreht das Wasser wieder ab, es könnte ja was wichtiges sein. „Ach, nichts.“, sagt sie.
„Frag’ mich doch später noch Mal, wenn ich gerade den Rasierapparat angeschaltet habe.“ denkt man im Stillen. Und sie verwünscht insgeheim diesen Schwerhörigen, mit dem ein Fluch des Schicksals sie zusammenbrachte, geht bald fremd und lässt sich scheiden.
Der Scheidungsrichter attestiert: Ihre Liebe musste scheitern, weil er sich regelmäßig wusch“.

Wooosh!, habe ich sie zurück in die (unkursive) Realität gezaubert.
Die Kolumne fängt nämlich gar nicht so an. Sie würde nur so anfangen, wenn es nach meinem Verleger ginge.
„Mach doch mal was über Tussis!“, steht auf seiner Stirn geschrieben. Das zu sagen, traut er sich aber nicht, also sagt er:
- Mach doch mal was leichtes, z.B. über so typische Unterschiede zwischen Mann und Frau. Das mögen die Leute.
- Ja. Die EINFACHEN Leute.
- Du bist zu arrogant, Lenin. Die Leser da draußen haben eben oft simplere Sorgen und Bedürfnisse.
- Aber meine Kolumne lebt zu einem Gutteil von einer gewissen Arroganz und Hochnäsigkeit.
- So hochnäsig, dass manche Leser schon glauben, du würdest z.B. Frauen verachten!
- Eine absurde Unterstellung. Pffhh. Ich verachte, wenn überhaupt, Frauen mit DICKEM HINTERN! Darüber könnt’ ich meinetwegen mal was machen.
- Nein. Jetzt wirst du primitiv. So was wäre einfach nur schlechtes Benehmen!
- Mag sein, mag sein. Aber vielleicht empfinde ich ja so manches Übergewicht als SCHLECHTES BENEHMEN.
Usw. usf.
So verlaufen die Gespräche mit dem Verleger immer. Ich rede viel zu oft und schnell in Großbuchstaben, aber ihm geht es sowieso ausschließlich um Kohle, und er hat nicht eine Spur von Sinn für Ästhetik. Also versteht er nichts vom Kolumnenschreiben. Nichts.
In einer grässlichen Phantasie sehe ich den Verleger zu Hause an seinem Schreibtisch, wo auch er heimlich an einem „heiteren Brevier mit Schmunzelgeschichten“ arbeitet. Auf seinem Tisch liegt ein Manuskriptzettel mit handgeschriebenen Notizen: „Frauen – einparken“ und „IKEA-Schrank selber zusammenschrauben“.

Und so erkennt man bald, was für ein mittelmäßiger Kolumnist man eigentlich sein muss, dass dieser mittelmäßige Mensch einen irgendwann entdeckt und verpflichtet hat.
Voller Gram und Selbstzweifel schleicht man von dannen, und zu Hause wird einem später dann noch zusätzlich bewusst, dass ja irgendwer auch all diese Apfelweine und Zigaretten finanzieren muss! Und also setzt man sich hin, voller demütiger Bereitschaft und devotem Schmerz; bereit, diesem Herrn einmal einen Herzenswunsch zu erfüllen. Und schreibt eine Kolumne über: SEX? Nein, niemals!
Aber, immerhin, über: HipHop!!
Here you go, Verleger:

In landläufig als Tittenmagazinen bezeichneten Druckwerken aller Couleur, gilt es als immerwiederkehrende Hochspannungsbotschaft, dass die eine oder andere Dame in der einen oder anderen Situation „nichts drunter“ hat. Ein Tittenmagazin geht so: Es gibt viele schöne Fotos von oft sehr hübschen Mädchen, die oft sehr wenig an haben. Wenn sie gar nichts an haben, sind sie im Schritt retuschiert, da in Deutschland der freie Blick aufs Gemächt in kioskverkäuflichen Postillen verboten ist. Die Mädchen sind also gleichsam geschlechtslos: keine Schamlippen, keine Kitzler. Führende Wissenschaftler auf diesem Gebiet haben herausgefunden, dass das auch der Grund ist, warum die Leute Tittenmagazin sagen und nicht z.B. Vulvenfibel oder Scheidenalmanach.
Hauptzielgruppe der Magazine sind Staatsanwälte und Richter, denen sie etwas Zerstreuung vom grauen Arbeitsalltag bieten, wimmelt es in ihnen doch von „Geständnissen“:
„Schon als Kind bin immer gern nackt die Bäume hochgeklettert, gesteht uns die laszive Danja verschmitzt.“
„Wenn sie dieses Gefühl von ‚ich will es jetzt und hier’ spürt, lässt sich Gaelle (sic!) schon mal in den Käfig sperren. Weil es das Verlangen reizt, nährt und steigert, bis ihr Innerstes wie flüssige Lava kocht.“
„Um mich selbst etwas in Stimmung zu bringen, trage ich gerne mal ein süßes Nichts unter meinem kurzen Rock, gesteht uns die Herzoginnentochter schelmisch. Unser Blick über die Schlossmauer beweist, dass es auch heute noch Märchenprinzessinen ohne Keuschheitsgürtel gibt.“

Und prompt schiebe ich ein persönliches Geständnis hinterher: Ich habe nämlich auch hin und wieder nichts drunter!

[Hier ließ ich ein wenig Denkplatz für ihre Phantasie. Denn Lesen regt ja so doll die Phantasie an, sagen Studienräte, wenn sie über die schlimme Jugend und das Fernsehen schimpfen.]
Das Nichtsdrunterhaben passiert immer dann, wenn ich mal wieder vergessen habe, frische Socken und Unterhose mit zum Sport zu nehmen. Ich ziehe es dann der ultimativen Höchststrafe (Wiederanziehen der nassgeschwitzten Unterwäsche nach dem Duschen) vor, Schuhe und Jeans einfach so über die nackte Haut zu stülpen. Und um ehrlich zu sein: Es macht nicht wirklich einen Unterschied, und nach wenigen Sekunden hat man es schlicht vergessen.
Jedoch: Ehrlichkeit ist nicht, wonach dem Verleger dürstet. Ergo:
Heute Nachmittag war es wieder mal so weit:
I had forgotten me panties. So I put these tight Blue Jeans right over them slinky glutes and onto this mature but nonetheless virile and vibrant blonker.
Mit harmloser Miene schlenderte ich nach dem Sport unten ohne über die Fußgängerzone. Dabei hat mich dieser Zustand natürlich selbst ganz schön angetörnt. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich heimlich die Reaktionen der shoppenden Mädchen. Ob sie ahnten, was für ein brodelnder Vulkan da gerade an ihren arglosen, wohlgeformten Körpern vorbeischritt?
Ich setzte mich in ein Kaffeehaus und blätterte beiläufig in einem Henry-Miller-Paperback. Die sliplosen Vibes, die ich ausstrahlte, schienen wie telepathisch, unwiderstehlich durch die Luft zu wirbeln. Schon nach Bruchteilen von Minuten sprach mich ein Mädchen an (die Bedienung).
- Was darf’s denn sein?
- Ein Martini, bitte.
- Auf Eis?
- Nein, mit nichts drunter.
Das saß. Seichte Anspielungen genügen in dieser animalischen Welt der Begierde. Von diesem Moment an ließ sich ihrer gesamten Mimik und Gestik entnehmen, dass ihr Unterbewusstes zunehmend auf mich fixiert war. Sie hatte offenbar verstanden. Jede ihrer fortan noch so beiläufig gespielten Handbewegungen trug eine gleichsam willenlose, wenngleich naturbefohlene, Laszivität. Beischlafwandlerisch durchmaß sie das Lokal (und in Gedanken, naked on horseback, die gleißende Steppe der Insel Lesbos). Bemüht spielte sie, es wäre alles business as usual: Sie bediente andere Gäste; auch solche die nach mir gekommen waren, bekamen schon ihr Getränk. Aber natürlich gehörte das nur zum altbekannten Spiel: Sie ließ mich warten! Suchte mich ihrergleich hochzubrühen; war sie doch längst ein glühender Hochofen der Lüste, eine kontrahierende Venusfalle, ein menschgewordenes Feuerwerk fleischlicher Begierde, ein wandelnder Garten Eden, eine lustvolle Sklavin ihrer triebgesteuerten Seele.
Offenbar hatte ich ihr sexuelles Gleichgewicht sogar derart in pulsierende Amplituden versetzt, dass sie gänzlich neben sich stand, und schließlich, verfangen in feuchten Phantasien gewollter Inkontinenz in saftigen irischen Wiesen, völlig vergaß, mir mein Getränk zu bringen. Logo: Sie hatte vermutlich schon den ganzen Tag selbst nichts drunter, war nunmehr totally sexed up, und es hätte lediglich eines Schnippens mit der rechten Hand bedurft, sie kurzerhand auf der Durchreiche zu vernaschen.
Ich aber dachte: Nicht jedes einfachen Flittchens lüsterne Begierde zu befriedigen ist meine Berufung. Und ging. Selber so aufgewühlt, dass ich glatt vergaß zu bezahlen. Was im Nachhinein nicht so krass war, denn ich hatte ja auch nichts bekommen.
Wozu auch? Ist es nicht viel lyrischer, wenn zwei Menschen in einer wolllüstigen Grille des Schicksals, dem profanen Konsumstreben in einem Ausbruch instinktiver Körperlichkeit ein Schnippchen schlagen?

Derart in Hochstimmung trug ich, kaum zu Hause, der von mir Angebeteten meine physische Begierde an. Sie musterte mich, dünkte mich nunmehr bereits nachmittags betrunken und beschied sachlich: „Ich muss Buchführung machen.“
Hhm.
Es verfängt nicht allüberall, wurde mir gewahr.
Vielleicht liegt es daran, dass ich keine Herzoginnenmutter habe, und als Kind zu selten nackt irgendwelche Bäume hochgeklettert bin. Genauer gesagt: Auch angezogen bin ich eigentlich nie auf Bäume geklettert; ich war als Kind sportlich eher minderbegabt. Und außerdem war Waldsterben.

Einerlei. Befriedigte mich als Literat doch ausreichend die dieser Episode innewohnende Metapher auf das Leben, wie es halt ist: Der eine hat nichts drauf (Verleger et al), der andere hat nichts drunter („Unter dem Schottenrock ist gar nichts, da ist nichts und da war nichts.“ [Nico Haak]), und am Ende wird immer Buchführung gemacht. Und dann stellt sich meist heraus (bei der Buchführung), dass selbst der, der vorgab, nichts drunter zu haben (Lenin) hauptsächlich nichts drauf hat (auf dem Konto). So ist das System. Hart aber ungerecht.
Die Hip-Hopper wissen das schon lange. In deren Welt gibt es nur böse Menschen, null Revolution, alle sind böse, und es geht eh immer nur um Geld, Macht, schnelle Autos, Titten usw. Alles andere ist „phoney talk“. 50% ihrer Zeit verbringen Rapper mit kiffen. Weitere 50% verbringen sie damit, darüber zu rappen, dass sie kiffen. Vermutlich ist diese ganze Kifferei nicht besonders gut für das Kurzzeitgedächtnis. Das sollte denen mal jemand sagen. Insgesamt ist die HipHop-Welle ein Ausdruck dafür, dass wir uns in einer zunehmend realistisch denkenden Ära befinden (in der Kunst wie in der Politik wie in der allgemeinen Weltanschauung). Realismus im Sinne der Wightschen Trias realist/rationalist/revolutionist, von der ich ihnen ein andermal ausführlicher berichten werde.
Ich finde übrigens, dass denen mal jemand sagen sollte, dass diese ganze Kifferei nicht besonders gut für das Kurzzeitgedächtnis ist.

Für Anhänger verschiedener Musikrichtungen gibt es in Deutschland jeweils eigene Lieblingsautobahnabfahrten. Die HipHopper stehen voll auf Neustadt/Weed (A3), Hard-Rocker verlassen die BAB am liebsten in Essen-Steele (A40), und für Störkraft-Fans gibt es die Abfahrt Siegen Eisern (Sauerlandlinie). Die Leser von Tittenmagazinen mögen die europäische Wasserscheide (A7[oder 9?]).
Die Marketingheinis in den großen Firmen und sonstwo haben sich auch sehr schnell darauf eingestellt, dass bei der jungen Generation HipHop, Rap und R’n’B angesagt sind. IKEA z.B. hat jetzt die Blumenvase Respekt im Programm. Das Volkstheater Frankfurt verkauft seine Komödien neuerdings als Posse. Und Lenins heimische Duschwassermischbatterie trägt den Produktnamenaufdruck Damixa.
Rap ist ja Sprechgesang.
Und tatsächlich: Sobald man Damixa betätigt, fängt automatisch eine Frau an zu sprechen.
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I don't use poetry, art or music to get into girls' pants,
I use it to get into their heads.
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Der Korrektor
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Beitrag von Der Korrektor »

Respekt!, Lenin,

absolut genial! Ich habe mich königlich amüsiert bei der Lektüre und hoffe noch auf viele Fortsetzungen. Und immerhin sagt ja auch SMUDO: "Am Ende ist Sex vielleicht die Lösung. Am Ende sind wir alle aus dem Wasser gekrochen, um uns zu vermehren. Weil wir das am besten von allen Spezies können, sind wir da, wo wir sind - mittlerweile mit so viel Großhirnrinde auf all unseren Instinkten, dass wir alles verkomplizieren und in Autos, Klamotten, Moral und gesellschaftlichem Status verklausulieren. Am Ende wählt das Männchen nach Optik und das Weibchen nach Prestige, dann verfeuern sie gemeinsam ihre Gene. Es geht nur um Sex."

Die Zeitschrift NEON stellte dann noch Die Fantastischen Vier vor die Frage, ob sie, vor die Wahl gestellt, "das Leiden" oder "das Nichts" bevorzugen würden. Der Coole, so stünde es in einem Buch namens "Cool", würde das Nichts wählen. Und ganz klar, dass der sexbesessene SMUDO da das Leiden bevorzugt ("Instinktiv sage ich: das Leiden"), während AND.YPSILON immerhin folgende sophistische Definition gelingt: "Das Leiden ist eine Illusion. Deine Story, die du dir schreibst. Diese eigene Kreation erzeugt dein Leiden. Die Kunst ist zu erkennen, dass nicht wahr ist, womit du dich dauernd identifizierst. Dein Leiden ist nur Fiktion. Wenn du das abstellst, bleibt das Nichts. Und das ist wahr."

Am coolsten aber wie stets Thomas D: "Ich wähle das Leiden, weil ich darüber Hammersongs schreiben kann. Die Welt würde weinen mit mir. Und danach wähle ich das Nichts."

Naja, vielleicht kiffen die auch ein bisschen zu viel.

Grüße,
Korrektor
Es war die Personifikation und Inkarnation des Grauens, des Abartigen, des Anderen. Doch bevor er diesen Gedanken vertiefen konnte, riss ihm das Monster gemütlich schmatzend den Kopf ab.
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MMC
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Beitrag von MMC »

Gratulation, ein gelungener Beitrag, der gefaellt.

Herr Pelzer, sollten Sie und Ihre Kollegen sich dazu hinreissen lassen, Herrn Lenins zukuenftige Werke in Ihrem Parteiblaettchen aufzunehmen, verspreche ich Ihnen ein neues, taufrisches Auslandsabo, und zwar an meine Adresse.
Weltalltag-Man
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Beitrag von Weltalltag-Man »

So, und aufgepasst, denn jetzt kommt die Dramatik in den Strang. Der erfolgreiche Literat lenin wird nach den ersten Erfolgen und anschließenden Lobeshymnen des begeisterten Publikums heimtückisch von einem Newcomer anbattlet. "ADRIENNE!" Doch zu spät... Ich springe also auf die Bühne, die Zeilen, die die Welt(tm) bedeuten, um ihnen von meinem bescheidenen Weltalltag im Cosmic-Remix zu erzählen.

Der heutige Tag begann und ich saß wieder zerknautscht in der Uni und trommelte zum Takt der hastenden Schritten um mich herum auf dem Kaffeebecher. Mit ein bißchen Übung findet man DEN Rhythmus vieler Leute raus. Der Eine watschelt den Blues, die Andere stöckelt poppig-süßen R'n'B und hin und wieder tanzt sogar einer aus dem Takt. Daran dachte ich gerade wieder als ich mittags im Einkaufssyndrom am Rande der Kleinstadt ein paar Besorgungen erledigte. Gerade spuckt uns im Kaufhaus eine fließbandartige elektrische Treppe im Obergeschoß aus, wo es ständig brüllt und flackert, denn tausende elektrische Dämonen schreien uns gleichzeitig "Kauf mich!" ins Gesicht im Gewusel der Kunden. Sie kennen doch das Gefühl, wenn man plötzlich aufwacht und sich, nach dem man ein paar Stunden in der Traumwelt wandelte, erst mal wieder orientieren muß. So fühle ich mich hier, nur daß ich mich dauernd aufs neue zu Recht finden muss.

Hinter mir bekommt eine Frau leuchtende Augen: "Ey, 10 Euro weniger!". Sie hat ihr kleines Glück an diesem Samstag nachmittag gefunden. Seelig lächelnd tritt sie an das Regal und nimmt sich ihren reduzierten Karton. Ob mich heute auch noch so ein Lichtstrahl trifft? Bei den DVDs? Wie wir da alle dastehen: Der Zeigefinger zuckt wie ein Schallplatten-Arm außer Kontrolle beim durchblättern während die aufgerissenen Augen die kurz aufflackernden Namen, Gesichter, Farben registrieren. Für meine Mutter sehen manche Autofahrer mit ihren stierenden Glozzis wie Katzen beim Scheißen aus. "Aach, jetz habbe die Dreggwätz nur die geschniddene Fassung uff die Diewiedie druff. Wer brauch' 'n dess?" Irgendwann werde ich dann vor den Ausgang gespült. Draußen sehe ich einer Frau zu, die gerade eine Pizzatasche gekauft hat. Sie fragt die Verkäuferin: "Kann man das irgendwie warm machen?". "Das IS warm!".

Jetzt sitze ich im Wohnheim mit Konrad vor dem Fernseher und Michael Douglas sagt bei Falling Down: "Und hier bin ich: König Kunde." während sich Yi und Lei mit Karaoke-Singen am Computer vergnügen. Karaoke als Hobby, ist das nicht ähnlich wie Malen nach Zahlen? Ich glaube schon. Leben nach Zahlen, das isses doch eh fast die ganze Zeit, oder? Entscheidungen treffe ich nach Zahlen, meine Verbraucherrechte werden erst nachm Zahlen gültig und die Stimmen der Beiden werden auch gerade vom Computer in Zahlen umgerechnet, damit ich sie später mit schweren, schlingernden Rhythmen... "TaMaDe!" ruft Yi, weil die CD hängt. Heißt auf Deutsch "...seine Mudda" und ist DER chinesische Kraftausdruck wenn was passiert. Aber man kann auch nur "MaDe" sagen, klingt cooler meint Yi. Tja, wenn das mal nicht ein neuer Brüller über den Slogan "Made in China" wird. "Think global, joke local."

Aber wie auch immer, wir vier packen jetzt alles für die große NeoGemütlichkeit zusammen und stolpern durch den Wald nebenan - mal bei den Eichhörnchen wieder aufn Busch klopfen. Durch einen Spalt im Wall der Bäume fällt ein Strahl durch den Wald in dessen Licht wir die Mücken tanzen sehen. Hier pflanzen wir uns dann neben ein Paar angeknabberte Fliegenpilze. DIE Rehe würde ich gerne sehen. Wir machen uns an Wein und Kuchen ran und pusten später dichten Rauch in die kühle Waldluft. Immer flacher und rötlicher wandert der Strahl auf uns zu über Erde und Wurzeln. Das wird er dann wohl sein, mein Lichtstrahl für heute. Kann sich doch sehen lassen, oder? Brauch sich wirklich nicht hinter einem Sonderangebot verstecken, nich?! "Yes, indeed!"

Und während um uns Fledermäuse und lachende Rehe mit verdrehten Augen flogen, drehte sich unsere Ortschaft allmählich aus der Sonnenseite. Als wir dann schließlich wieder vor dem Wohnheim standen, hörten wir aus der Küche die Spanier, die in der ersten Etage noch Gitarre spielten. Und ungefähr jetzt begann die Sonne wieder den Smog in Peking in Wallung zu bringen. Doch schon auf dem nächsten Nachbarplaneten bekam man von all dem nichts mehr mit.
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