Es gibt ja diese Art von Kunst, die nicht schön ist, wenn man sie konsumiert, sondern ihre Schönheit im bloßen Tatbestand des Existierens entfaltet. Oder, etwas vulgärer gesagt: mit der man uns um Gottes Willen verschone, jedoch die Erde ein langweiligerer Planet wäre, ohne sie. Große Teile der experimentellen Künste aller Facon des 20. Jahrhunderts würde ich z.B. unter dieser Überschrift fassen, nicht zuletzt natürlich alle möglichen Auswüchse- und Wucherungen der sogenannten „ernsten“ Musik.
Künstler, die sich in solchen off-Bereichen versuchen, haben es dabei wahrlich nicht leicht. Wie so oft, ist es nur ein ganz schmaler Grat, auf dem Bewegung gewinnversprechend möglich ist, und die Grenze zwischen Genialität und Dilettantismus, zwischen avantgardistisch und grenzdebil nahezu übergangslos und semipermeabel.
Nimmt der Künstler sich ironiefrei ganz und gar ernst, so fällt er wegen abgefeimter Scharlatanerie, meist: feuilletonistischen Verbalverbrechen gepaart mit Heilpraktiker/Chakra-Affinität, durch unser Raster. Übertreibt er hingegen die Ironie, so tendiert er gegen Hape Kerkeling („Hurrrz!“), und somit gegen Null – Boulevard statt Kunst.
Lange Rede kurzer Sinn: es fällt nicht leicht, einen Vertreter des angesprochenen Genres zu loben.
Auf einen, bei dem ich mir diesbezüglich auch nie ganz sicher war, möchte ich nun ihr Augenmerk lenken: Herrn Cage, John.
Aus der Schule wissen wir noch, dass er irgendwie Klaviere präparierte, und außerdem mal irgendein „Stück“ geschrieben hat, bei dem fünf oder sechs Minuten lang einfach nichts gespielt wird. So weit, so geistiger Mainstream. Letztlich hat er mich dann aber doch zu diesem hier gerade geschriebenen Lob getrieben, durch sein aktuell aufgeführtes Werk
„ASLAP“ (as slow as possible).
So ein bisschen das Gegenstück zu sechs Minuten Stille, nämlich ein Orgelkonzert, das 639 Jahre dauert.
Tatsächlich wird das Ganze derzeit bereits aufgeführt (genauer seit 05. September 2001), und zwar gleichsam am Urpuls abendländischen Kulturschaffens, im Ostharz!
Das Stück beginnt mit anderthalb Jahren Pause, man hört keinen Ton, „sondern allein das Gebläse der Orgel, das Luft schöpfte für die vor ihm liegenden Jahrhunderte.“
Inzwischen gibt es drei Töne dauerhaft zu hören, 2x Gis und 1x H.
Moll also, nicht dur, was dachten sie denn?, wo leben wir denn?, das Leben, wie die moderne Kunst es wahrzunehmen pflegt, ist schließlich kein Kindergeburtstag. Doch Vorsicht!
Wer nur die ersten drei Jahre hört, bekommt einen völlig falschen Eindruck von dem Stück. Als nächstes stoßen nämlich, und zwar MORGEN, MONTAG, DEN 05.07.2004, 2x E hinzu, und, die Musiker unter uns riechen es bereits, innerhalb von Millisekunden geht plötzlich die Sonne in Dur auf, Mord und Entsetzen, Trauer und Totschlag liegen hinter uns, Versöhnung pur, endkitschig.
Leider nur für ein paar Monate, dann bleiben nur noch 2x E übrig, und das gibt auf Dauer, und eine solche scheint mir hier vorzuliegen, böses kosmisches Blut – ist doch die Grundschwingung des Kosmos (fragen sie den freundlichen Esoteriker von nebenan) ziemlich genau gleich dem Ton G. Wenn diese zwei Dauerschwingungen (Cages E und das G der Welt) nun jahrelang diametral und unablässig aufeinanderprallen, ist die Resonanzkatastrophe ja quasi vorprogrammiert, wenn da mal nicht die Welt aus den Angeln gehoben wird.
Mache hier mal Schluss. Ich denke, sie haben mich verstanden. Wer derlei schmunzelerregenden Stuss komponiert, und dann noch jemand anderen findet, der bereit ist, das ganze (vermutlich sogar auch schmunzelnd) aufzuführen, noch dazu unter durchaus realsatiroiden Rahmenbedingungen, die sie bitte dem beigefügten Link entnehmen, dem sollte man eben doch eine gewisse Genialität, oder besser: Leichtigkeit des Seins, nicht absprechen.
Hut ab Herr Cage, Hut ab Halberstadt.