unverlangt eingesandte (Kolumnen-)Manuskripte

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Peter Hartz
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Beitrag von Peter Hartz »

Wie die vorherigen Beiträge zeigen, ist Kolumnenschreiben durchaus keine Geheimwissenschaft.
Man könnte auch sagen, "10% Talent, 90% Übung" (Jassir Arafat).

Für diejenigen, die auch mal ihr Glück versuchen wollen, hat der großartige Harald Schmidt einige Ratschläge zusammengestellt.
Hier sind die zehn goldenen Regeln:
Harald Schmidt hat geschrieben:1. Kein Thema ist zu armselig, um nicht auf zwei DIN-A4-Seiten ausgewalzt zu werden. Je dünner der Inhalt, desto bombastischer sollten die Überschriften ausfallen (Ende des Universums, Menschheit ade...).

2. Finger weg von Fachgebieten. Hier könnte man Ihnen auf die Schliche kommen. Bringen Sie Nobelpreisthemen in einem »menschlichen Zusammenhang« (Mutti und die Atombombe).

3. Ab und zu mal ein cooles Zitat einstreuen, a la »seriousness of purpose and lightness of touch« (C.P. Scott, Manchester Guardian). Heißt soviel wie: Auch beim Thema WKII schön locker bleiben.

4. Profitieren Sie von anderen. Einen gründlich recherchierten Artikel im Nachrichtenmagazin A garnieren Sie mit Kalauern, vertreten sodann die Gegenposition, und fertig ist die Kolumne für Nachrichtenmagazin B.

5. Alle fünfzehn Artikel einmal William Safire erwähnen.

6. Zappeln lassen. Nicht verraten, wer das ist.

7. Keine Anbiederung. Überlassen Sie Themen wie Massen-arbeitslosigkeit, Subventionsabbau und Steuervorteile für Reiche ehrgeizigen Ressortleitern in der Lokalpresse. Ihr Motto sei: Aut sint ut sunt, aut non sint (je größer der Sozialabbau, desto wichtiger die Weißweintemperatur).

8. Überraschen Sie mit stilistischen Finessen. Stellen Sie ungezwungene Bezüge her zwischen Papst Clemens VIII (1758-69) und dem aktuellen Benzinpreis.

9. Verschleiern Sie Ihren tatsächlichen Bildungsstand (soweit möglich).

10. Sollte Ihnen mal wirklich absolut gar nichts einfallen, beginnen Sie Ihren Text mit dem Satz »Nicht umsonst gilt Beharrlichkeit als das Ideal der Jesuiten«.

11. Kündigen Sie zehn Punkte an und bringen Sie elf. Ihre Gegner werden staunen.
("Warum", Kiepenhauer&Witsch, 1998)


In diesem Sinne...
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Knolle
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Beitrag von Knolle »

Herr Hartz, Sie klauen ausgerechnet im <a href="http://de.safeurl.de/?http://www.senior ... /a903.html" target = "_blank" class="postlink" >Seniorentreff</a> Ihre Beiträge für diese Forum?
Peter Hartz
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Beitrag von Peter Hartz »

Herr Knolle, ich wehre mich entschieden gegen derartige Vorwürfe! Beiträge zu "klauen" ist nun wirklich nicht mein Stil.
Wenn Sie es genau wissen wollen, ich habe jene "10 goldenen Regeln" direkt aus dem Buch (pdf-Datei) kopiert.

Allerdings, die Beiträge in diesem "Seniorentreff" scheinen z.T. wirklich lesenswert zu sein.
Danke für den Linktipp.

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Knolle
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Beitrag von Knolle »

Wenn das so ist, bitte ich Sie um Verzeihung. Aber die Duplizität erschien einfach zu auffällig.

Und: Ja, ich will es immer ganz genau wissen.
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lenin
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Beitrag von lenin »

da ja hier auch mal wieder was reingeschrieben wurde, möchte ich, um meine Eigenerstrangvergessenheit zu rechtfertigen, kurz erklären:
erst war ich im Urlaub, dann war mein Computer vier Wochen lang HIV-positiv, und jetzt flieg' ich schon wieder in die Sonne.
Aber es wird weitergehen. Ob's sie interessiert oder nicht.
Gruß Lenin (demnächst braun und gutgelaunt)
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Beutelrobotier
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Beitrag von Beutelrobotier »

lenin hat geschrieben:...Aber es wird weitergehen. Ob's sie interessiert oder nicht.
Gruß Lenin (demnächst braun und gutgelaunt)
Jetzt las ich schon: demnächst braun gelaunt und gut gebrannt...
Aber auch das gehört wohl nicht in diesen Strang.
Dann kommen Sie mal gut wieder um.

Fott is fott und Föttche is Föttche
Gutgemeinter Gruß
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lenin
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Ich Roque

Beitrag von lenin »

Ich Roque
Ein Reisebericht

Lenin ist Pauschaltourist. Neulich war ich auf Mallorca und jetzt gerade auf Gran Canaria.
Wenn Menschen auf einer dieser Inseln waren, und, wieder zu Hause, nach ihrem Urlaubziel befragt werden, so sagen sie:
„(kleinlaut) Mallorca. (lauter) Aber im Norden! Wandern!“
oder
„Teneriffa, nich in sohm Ferjenbunker, sondern die ham da auch total schöne Ecken.“
Und ähnliches.
Mir scheint eine pathologische Struktur genuin deutscher Prägung vorzuliegen, ich nenne sie den Ballermann-Komplex.
Offenbar fordert die Gesellschaft den Menschen eine Entschuldigung dafür ab, dass sie sich in ein Land begeben, in dem das Wetter und die Landschaft tausendmal schöner sind als hier, in dem es Traumsandstrände gibt und malerisch blaues Meer.
Ich finde das absurd.
Ich kann mir fürwahr fast nichts schöneres vorstellen, als auf einer paradiesischen Insel bei paradiesischem Wetter eine Woche lang mit einer Hand voll guter Freunde nichts zu tun, aber auch rein gar nichts, außer sich einem konstant sanft-säuselnden Alkoholrausch in Tateinheit mit Völlerei und Nikotinabusus hinzugeben, en passant zwei, drei gebrochene Mädchenherzen zurückzulassen, und kein Hotelbunker und keine überdimensionierte Einkaufsmeile und keine noch so billige Diskothek werden mir solch üppiges Plaisir auch nur ansatzweise trüben können. Lieber einen Monat El Arenal als einen Tag fremdbestimmt arbeiten, hugh!

Allein, ich kann mir eben nur fast nichts schöneres vorstellen.
Denn, äh, das ist argumentationstrategisch jetzt an dieser Stelle ein bißchen ungünstig, aber es verhält sich so, dass auch ich die Inseln hauptsächlich zum Wandern bereise.
Wandern? werden sie vielleicht fragen, ist das nicht so ne Rentnerbeschäftigung? Ein Leben lang negativ konnotiert, weil man als kleines Kind, dem Elternzwange hilflos ausgeliefert, sonntägliche Ausflüge ins öde spielzeugfreie Gebäum über sich ergehen lassen musste?
Ich versuche zu erklären:
Also erstens: Als Großstädter und Raucher verspüre ich einen natürlichen Drang nach frischer Luft, wirklich frischer Luft, Waldluft. Der Konsum ebenjener führt beim rauchenden Großstädter zu einem mittleren Rauschzustand (el ilusión). Kombiniert mit dem zusätzlichen Dopaminausstoß, hervorgerufen durch sportliche Betätigung, erfährt man eine äußerst angenehme sauerstoffinduzierte Dröhnung. O2 can do, sozusagen.
Zweitens ist das mit dem Meer so eine Sache. Obschon der Reiz sommerlicher Sonnenauf- und untergänge am Gestade des blauen Ozeans nur schwer zu leugnen ist, möchte ich doch nicht unbedingt den ganzen Tag (el día) oder gar den ganzen Urlaub (el farino) am Strand verbringen. Das Meer hat so seine Zicken: Kleinkinder und Frauen pinkeln rein, es ist salzig und enthält Quallen, Quitten, Gilf und Gabber, leere Getränkedosen und abgelöste Heftpflaster, die eben noch juckende Ekzeme schweißfüßiger sächsischer Grundschüler bedeckten. Sowas bekommt man ungern ins Gesicht gespült.
Zum Dritten: Beim Wandern gibt’s mittags Stullen. Ich liebe Stullen.
Viertens (mit erstens verwandt) habe ich einen Landschaftstick. Also, eine schöne Landschaft, ein herrlicher Blick, das Sich-Befinden in Restbeständen offenbar noch funktionierender, halbwegs unberührter Natur, nicht umgeben von einem Bleckkäfig, sondern live und in Farbe; solche Sachen sorgen bei mir für wohltuende, den ganzen Körper durchwirkende ästhetische Befriedigung, wiederum verbunden mit starker endorphinöser Flutung der Großhirnrinde, wie man sie von Achterbahnfahren und Fellatio kennt.
Offenbar bin ich eine Art Emo-Öko. Erwiese ich meinem Namen endlich mal eine Ehre und träte eine Revolution los, dann würde ich ein bißchen beim Kollegen Mao abkupfern und die Leute zunächst auf einen langen Marsch schicken. Denn ich glaube, wer die Natur kennen lernt, der wird sie auch lieben lernen, und vielleicht auch mehr gegen ihre Zerstörung tun. Nebenbei könnte ich noch ein Buch rausbringen (Arbeitstitel: „Der lange Marsch zu mir selbst“); als Revoluzzer kommt es ja immer ganz gut, wenn man auch irgendeinen Schinken geschrieben hat, wo so die Basics drinstehen, damit das Volk eine Richtschnur hat und in späteren Generationen unterschiedliche Exegetenschulen entstehen, die sich in halbnoblen, rauchgeschwängerten Debattierclubs bei Pfeife und Rotwein (vino tinto) bis aufs Messer zerstreiten.

Pauschaltourismus geht so: Wenn das Flugzeug landet, fangen ca. 75% der Mitreisenden an zu klatschen. Dies ist natürlich eine typisch deutsche Grille, und deshalb machen die anderen 25% viel zu laut „Ts ts“ gepaart mit einem total übertriebenen Kopfschütteln, um dem Rest der Welt zu zeigen, dass sie geistig auf metropolitanem Parkett zu Hause sind. Der Rest der Welt ist aber gar nicht mit im Flieger. Ich finde, man könnte das Klatschen als Würdigung einer gelungenen Pilotenleistung akzeptieren, wenn gleichzeitig Buh-Rufe und Pfiffe bei den überflüssigen, nervtötenden Pilotendurchsagen während des Fluges eingeführt würden.

Mallorca ist eher eine Notlösung (last-minute, preiswert und so). Zwar spricht nahezu jeder fließend Deutsch, Englisch und Esperanto, aber die Landessprache, eine Art katalanisch, ist sonderbar. Die Orte tragen Namen wie Cap Ferrutx (= meine Mütze sitzt schief), das sieht zwar ganz lustig aus, hört sich aber doof an.
Die Kanaren sind viel schöner. Hier sprechen die wenigen Einheimischen Spanisch, allerdings ohne die schwierigen Sachen, also das elende Gelispel und so.
Ganz wichtig: Man bleibt von lästigen Insekten verschont. Ausnahme sind natürlich die berühmten Schaben (las cucarachas), die eine stattliche Größe erreichen, derer es aber längst nicht so viele gibt, wie immer alle denken.
Laut Reiseführer gibt es auch keinerlei Raubtiere. Dies ist allerdings nur im Prinzip richtig. Dem Wanderer auf den Kanaren bieten sich nämlich im groben zwei Alternativ-Szenarien: entweder er stürzt irgendwann in eine der unzähligen tiefen Schluchten (los barrancos), oder er wird von einem räudigen Dorfköter (el perro mangino) zerfleischt. Der durchschnittliche kanarische Bergdorfbewohner (el mongo) verfügt über fünf bis siebzehn vierbeinige Bestien, die sein windschiefes Häuschen incl. müllübersätem Vorgarten durchaus pflichtbewusst bewachen. Sobald man aber besiedeltes Gebiet verlässt, hat man tatsächlich aus dem Tierreich nichts mehr zu befürchten. Allerdings wird einem auch ganztägig keine Menschenseele mehr begegnen. Die ganzen deutschen Touristen, die alle „in den Norden“ und „weil man da so toll wandern kann“ kamen, sind grundsätzlich grade unpässlich.
Ausnahmen finden sich an den ein, zwei wirklichen Must-Gos, die in jedem Reiseführer stehen, und die man auch mehr oder weniger bequem per Auto/Reisebus erreichen kann. Auf Gran Canaria ist das der Roque Nublo. Am Gipfel eingetroffen (Lenin in prominenter Begleitung der amtierenden hessischen Stullenkönigin) trafen wir tatsächlich auf vier Deutsche im typischen Pauschaltouristenalter zwischen 60 und scheintot. Der Roque ist ein Prachtkerl von einem Fels und die Aussicht ist atemberaubend. Gerne beobachte ich, was die Menschen so treiben, wenn sie eigentlich, vor der Schönheit von Mutter Natur ehrfurchtsvoll erstarrt, stiller Kontemplation sich hinzugeben berufen wären. Die vier schauten und picknickten. Dazu in tiefstem Rheinisch folgender Dialog:
- Nä, also der Hiddler, das war schon schlimm.
- Na ja, aber der Stalin. Das war auch’n Verbrecher.
- Joh. Aba der Hiddler, du.
- Joh. Aba der hatte ja auch ne Menge Hintermänner!
Ach so.
(nur wenige wissen, dass der beliebte Fußballer-Zuruf „Vorsicht Hintermann!“ aus dem dritten Reich stammt)
Darüber reden die Menschen also, wenn sie sich gerade an einem der schönsten Orte der Welt befinden. Ein Freund berichtete mir von einer überwältigenden Wanderung am Klippenrand des Grand Canyon, während derer sein Begleiter einen einstündigen Monolog über die derzeit günstigsten Handytarife hielt. Das Ignoranzpotenzial der Menschen ist groß und stets frappierend. Mein diesbezügliches Unverständnis äußerte ich dann wohl auch am Gipfel des Roque, nach dem Belauschen der Rheinländer. Die Stullenkönigin pflichtete mir bei („ja, schrecklich“), zückte anschließend ihr Mobiltelefon und stöhnte: „Das gibts doch nich‘, ich hab‘ schon wieder zwei Ess-emm-esse!“

Mir schwant, dass mein Entwurf des revolutionsvorbereitenden langen Marschs vielleicht doch etwas zu optimistisch gedacht war. Vermutlich läuft‘s eher so:
Die wenigen Pfundstypen, die ich mit im Tross habe, Paraderevolutionäre Cheschen Zuschnitts, werden nach ein paar Tagen unruhig; sie wollen kämpfen, nicht wandern. Der große Rest palavert den ganzen Tag über TV-Sitcoms und die neuesten Schnäppchenpreise, und schon bald verfallen sie gänzlich konterrevolutionären Ideen da draußen, und vergleichen Testberichte von Geländefahrzeugen und MotoCross-Maschinen. Ich muss täglich härter durchgreifen, ständig irgendwen liquidieren, zunächst halboffiziell, später erste Schauprozesse, missmutiges Murren hinter vorgehaltener Hand („ein Tyrann!“) setzt ein, schleichende Abjudikation meines Commandante-Status schlägt um in offene Aufruhr. Sie tun mir nicht wirklich was, binden mich bloß an einen Baum („jetzt kannst du deinen ollen Wald genießen, so lange du willst!“). Die neugewählte Führung tagt fortan in einem McDonalds Drive-In an einer Autobahnraststätte. Ich überlebe, da ich von einer Gruppe off-road-enduro-begeisterter Motorradfahrer bei einer ups-gesteuerten nächtlichen Gotcha-Jagd gefunden werde. Zunächst hänseln mich meine Befreier ein bißchen, bevor sie mich kurzerhand zu ihrem neuen Maskottchen erklären: „Du Roque!“

Tja, normál, wie der Spanier wohl sagen würde.
Normál ist eine der wichtigsten Vokabeln, die man als Kanarenurlauber beherrschen sollte, und ihre Bedeutung ist vielfältig wie die vom Versagen der Geriatrie zeugende Haut der Touristen.
Das Wort bezeichnet z.B. die Tatsache, dass der Mietwagen (el coche) auf der rechten Seite stark verbeult ist, beim Geradeausfahren scharf nach links zieht und die Vorderachse beim Fahren ein Dengelgeräusch erzeugt, dass ihre Aufhängung an noch maximal einer verrosteten Schraube verheißt. Man benutzt es auch für das nurmehr tröpfelnde Rinnsal aus der Apartmentdusche, das Nicht-Funktionieren der Herdplatte (la playa) und die etwas eigentümlichen architektonischen Sitten des Landes. Während der Mitteleuropäer am Bau zu einer erprobten aber zugegeben eintönigen Rechtwinkligkeit neigt, entfaltet der Kanare hier erstaunliche geometrische Kreativität. Eher trapezförmige Tür- und Fensterrahmen z.B. sind Standard und sorgen stets für ausreichende Frischluftzufuhr im Gebäudeinneren.
Ich besitze ein Spanisch-Lehrbuch, und in einem der ersten Kapitel, fragt ein Taxigast den Taxifahrer, ob er das Fenster öffnen dürfe. Der Fahrer antwortet, das ginge leider nicht, das Fenster wäre kaputt (esta rota). Da soll noch mal einer sagen, die Dialoge in solchen Sprachlehrbüchern seien realitätsfremd.
Normál ist natürlich auch, dass man es mit der Mehrsprachigkeit auf Hinweisschildern, Speisekarten etc. nicht so ernst nimmt. So richtig mitteilenswerte Schenkelklopfer sind mir aber leider nicht begegnet. Ganz nett war der Busfahrplan, in dem die Abfahrtszeiten für die „Epoche Student“ aufgelistet waren. Da ich vor etwa einem Jahr die „Epoche Student“ hinter mir gelassen habe, und mich seither in der „Epoche Galeere“ befinde, hielt ich vom Busfahren Abstand. Am Hotelaufzug konnte man noch lesen, was „im Fall von Feuererklänuy“ zu tun sei. Ein eher schmaler Schmunzelertrag auf diesem sonst so verlässlichen Gebiet, zugegeben.
Außerdem: In puncto Fremdsprachen haben die es ja auch wirklich nicht leicht. Nicht nur Deutsch und Englisch werden nachgefragt, die Speisekarten sind darüber hinaus in Holländisch, Dänisch, Schwedisch und Finnisch zu gestalten. Es gibt sogar finnische Restaurants. Der gewiefte Gastronom versucht da schon eher den Rundumschlag: „Chinese, Indian & European Food + Hollandse Snacks“. Zu seligen Dalli-Dalli-Zeiten hätte weiland Medy Riehl da mal mindestens eins als „Oberbegriff“ abgezogen.
Ansonsten tragen die Kneipen verheißungsvolle Namen wie „Planet Bayern“ oder, mein Favorit, „Ristorante-Pizzeria de la viaje ciudad de Düsseldorf“.

Ich empfehle, ein Reisetagebuch zu schreiben. Da behält man hinterher den Überblick über das Erlebte und manchmal bringt es einen sogar zum Schmunzeln:
„Dienstag: Ersatzauto. Dengelt auch. Rechtes Seitenfenster kaputt. Wanderung zum Kraterrand. 1a-Ausblick, göttliche Stullen. Dem Tode ins Antlitz geblickt (zwei einheimische Halbstarke mit „no-turismo-T-Shirts“). Abends wieder dem Tode ins Antlitz geblickt (6 Pints „Merryman-Vintage-Cider“, 7.5 Vol%), anschl. Geschlechtsverkehr, normál.“

Alles weitere, was man berichten könnte, kennt man auch schon aus anderen Ländern, wie Frankreich oder Italien, wo allerdings deutlich besser gekocht wird. Etwa die merkwürdig unpraktische Art, ein Bett zu beziehen, den sympathischen Hang zu starkem Kaffee mit Cognac und Rauchware, die Tatsache, dass Polizei und Ambulanz nicht „zuspäät-zuspäät“ sondern „ehzuspät-ehzuspät“ machen, und im Bad gibt’s immer ein Bidet. Letzteres ist sogar ganz nützlich, da kann man nämlich seine Dreckwäsche drin sammeln und bei Bedarf auch waschen.
Eins noch: Zum Wandern braucht man ein paar ordentliche Schuhe – mehr nicht. Seit neuestem gibt es Menschen, die selbst zum Spazierengehen im Park erst Mal im Sportgeschäft eine Ausrüstung incl. zweier Skistöcke kaufen müssen. „Nordic Walking“ nennt sich das dann, und (mein Verleger sagt immer, ich solle mich nicht so echauffieren, das gäbe mir so’n Brillenschlangenappeal, aber...) das ist nun wirklich das mongomatenmäßig beknackteste, was die Menschheit seit langem erbrochen hat. Wenn uns Wanderern mal ein „Nordic-Walker“ begegnet gilt informell folgende Handlungsmaxime: man lenke ihn kurz ab (z.B.: „oh, sieh‘ mal, da drüben“) entreiße ihm den Skistock, werfe ihn in einen barranco, sage: „hol’s Stöckchen!“, und verabschiede sich, Handfläche an Stirn. Bei Bedarf gewürzt mit den Worten der kanarischen Punk-Ikone Juan Estarota: „Ay hombre, coito tu madre mangino.“


Anhang
weitere wichtige Vokabeln:
sin plomo – tadelloses Gebiss
con gas – Musik, Trommeln
agua con gas – Erfolgsroman von T.C. Boyle
olé – mit Milch
leche leche – öche öche
Rey Carlos – Sänger (blind)
zona agro-turisme – hier wache ich!
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jugend-musiziert
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Beitrag von jugend-musiziert »

Spekulieren Sie bloß nicht darauf, dass ihnen irgendjemand hier Ihre Wanderurlaube bezahlt, damit Sie weiter Ihre Kolumne schreiben.

Aber tun Sie's bitte.

Vielenvielen Dank,

jm
Weltalltag-Man
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Beitrag von Weltalltag-Man »

Protokoll einer gescheiterten Kolumne

Wie immer sollte an dieser Stelle mein vierteljährlicher Versuch, etwas Wettbewerb in diesen Strang zu bringen, stehen, in dessen Verlauf mir - nach der Anstrengung, mich nicht von einem zähen Menschensyrup völlig verschnöden zu lassen - auch nach Kontrastprogramm (siehe Kolumne oben) dürstete, also danach, durch Weide und Wiese zu trampeln. Das war nämlich so: Ich brauchte noch ein Geschenk für einen süßen Spatz. Dringend! Und dieses "Brauchen" ließ sich nicht mit Worten besänftigen, nein, es machte deutlich, wie sehr Gerhard Polt recht hatte, als er eine seiner Personae sprechen ließ: "Da fühlt man, im Grunde auf ist der Mensch ein Gefühlsmensch, ein Gefühlswesen und die Gedanken können einen am Arsch lecken."

Mit einem ordentlichen Quantum Bad Heilbrunner Nerventee und weiteren angebrachten Prophylaxen im Blut ereilte mich kurz vorm Eingang des von mir auserkorenen Kaufhauses die erste inspirierende Szene: eine Frau mit Kunstpelzmantel und toupierter Riesenmähne rutschte vor mir in ihren HighHeels auf der mittlerweile gefrorenen Pisspfütze eines um Spende bittenden Zirkusponies aus und der alte Kompanion des Pferdchens hielt ihr umgehend mit mitleidserregendem Blick den Klingelbeutel unter die Nase. Am treffsichersten hätte wohl Don Martin diese Geräusch zu Papier gebracht, dachte ich mir da. Gehen wir es doch einmal in der Zeitlupe durch: Klak-A-Klak Klak-A-SchaWIRRRRR ...ZappaDONG!!!...KlingKlingKling. Ob das dem Don gerecht wird sei dahingestellt, aber es kommt der Sache schon recht nahe. Ich half der Frau auf und sie stieß die große gläserne Pforte zum Befriedigungscenter auf. Wie ein Schwarm feuerspeiender Harpyen überkam mich dort im Innern diese wechseljahrstypische "Fliegende Hitze". Ich riß die linke Kralle zum Schutz über mich, aber da waren nur Lüftungsgitter, die die Menopausierenden höchstwahrscheinlich nie wahrnehmen und sich nur "Och nöh, nicht schon wieder..." denken. Hinter mir drängelten schon die nächsten zu beglückenden Kunden nach und spülten mich vor die *LECHZ* Seidenstrumpfmodellfotografien, doch schon im nächsten Moment begann das *ÄCHZ* mühlenartige Gedrängel und Chaos um mich herum an mir zu nagen: Überall wuselte es - Hunderte von Fingern grabbelten wie Würmer an ausgelegten Waren. Dutzende von wilden Augen waren auf der Jagd nach dem perfekten Schnäppchen. Ich ließ mich Richtung Abort schwemmen um mich mit einer weiteren Baumaßnahme gegen den madenartigen Wahnwitz zu wappnen. Dort auf dem Boden der Fliesenzelle lag wie erwartet eine "Super Illu" oder "Praline", derer sich der vorherige Nutzer (el pendejo urinal) verschmitzt bzw. verschwitzt entledigt hatte. Mein erschreckendster Fund in Kaufhaus-Toiletten: Ganz arme Schweine bedienen sich sogar bei den Frauen aus dem Otto-Katalog! Auch aus der Nachbarkabine konnte ein regelmässiges SchaRubb SchaRubb! und ein sich dazugesellendes GROINK GROINK! nicht mehr verleugnet werden. Mir lief es heißkalt den Rücken runter - als ich plötzlich eine riesige Woge aus all dem Samen den diese Schüsseln jemals schlucken mussten in einer gigantischen stummen Welle über die Toilette hereinbrechen sah. "Oh mein Gott: Dieses Kaufhaus steht auf einem Friedhof der Ungeborenen! Toilette 237!". Dunkelheit...
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Da tut es wahrlich not, es abends den Gemsen gleich zu tun und sich am Alpenglühen zu erfreuen, an dem Gefühl wenn Wind um die Hand weht, daran wie sich ein Grashalm, ein Baumstamm anfühlt. Bis man, wie es mir an diesem dämmernden Tage passieren muss, mirnichtsdirnichts vor eine ausgeweidete Gams hopst und ihr unverschämt auf den bloßgelegten Darm glotzt, während um das unglücklich verendete Viech die Fliegen kreisen. Ach, verdammte frustrierte Freaks sind das, sich an den armen Viechern so abzureagieren. Wo ist die Gams-Polizei, wenn man sie braucht? Und ob Gemse auch wie Hühner hin und wieder absichtlich Steine schlucken, um die Verdauung a la dem Geklimper in Qi Gong Kugeln zu unterstützen? Fragen über Fragen. Ich starre weiterhin auf den geöffneten Leib, bis ich es in der Gams wie heute Nachmittag im Kaufhaus wuseln sehe. Im toten Gerippe scheint sich ein krabbelnder, zitternder Strom die Luftröhre entlang Richtung Kommandozentrale zu bewegen. Ich ahne es: Jetzt wollen sie das Hirn essen...

Bald kam ich wieder im Kaufparadies zu mir. Irgendwo hier muß doch das Nest dieser Knuddl-Bären sein, von der ich dringend einen brauchte, um Mandy eine Freude zu machen. Im Meer der Preisetiketten, Markensymbole und Strichcodes strampelte ich bis ich zu einer Kasseninsel gelangte, kletterte auf den Tresen und hielt Ausschau. In einer entfernten Ecke konnte ich die Ohren von Knuddl-Bär ausmachen und da waren auch all seine verfickt süßen Freunde. Aber es kam, wie es kommen musste: nur ein einziger großer, fetter Knuddl-Bär saß noch im Regal und wurde auch schon von einer Mutter begutachtet. "HOLS DER TEUFEL!" fluchte ich Fingernägel kauend und finstere Absichten brauten sich zusammen. Ich sprang über all das Gesichtsgulasch hinweg und riß der Frau den Bären aus der bleichen Hand. Aber was war das? Es war die selbe Frau, der ich vorhin aufgeholfen hatte! In der ersten zehntel Sekunde ihrer Überraschung und ihrem Schrecken ließ mich ihr Gesicht, bevor es sich wieder maskierte, in ihre Seele blicken. Sie kennen diese Situation wenn jemandem das Herz aufbricht und man für einen kurzen Augenblick, der einem viel länger vorkommt, den nackten Gefühlsmensch vor sich stehen sieht. Da stand ich und bekam eine vage Vorstellung von ihrem Verhältnis zum Leben an sich - und mann, die hatte ein Pech heute. Also ab dafür; elektrische Treppen hinunter und in regelmäßigen Abständen ließ der Bär in meinem Griff die Detektoren aufheulen. Über all den Lärm setzte sich nun die Mutter hinweg, sie setzte an zu einem sirenenartigen, schrillen Urschrei. Ihre eingefallenen Wangen, diese toten Ruinen eines einstigen Schlosses Babyspeck erzitterten während ich das Erdgeschoß erreichte. "Wenn das Signal ertönt, lassen sie bitte an der Kasse das Sicherheitsetikett entfernen" stand da an den letzten Detektorschranken, die sofort losbrüllten. Aber leider keine Zeit zum umkehren, denn wie es der große Magnet will dem nach alle Dinge fließen hielt mein Bus gerade an der Halte vor dem Gebäude, ich sprang hinein und die Türen schlossen sich.

Jetzt schließe ich der Gams die Augen - GaLITSCHKA - und streiche mir ihr noch warmes Blut aus dem Bauch über das Gesicht. Zwei Striche die linke Wange hinab und zwei die rechte, wie es ja auch Johnny 'Ich war ein Idiot' Depp mit dem Blut des toten Rehs für Jim Jarmusch in "Dead Man" getan hatte. Anschließend an solche Erlebnisse und Gedanken hopst es sich dann doch etwas weniger euphorisch durch die Pampa muß ich sagen, aber immerhin hab ich (und evtl. SIE, werter Leser, der sie bis jetzt durchgehalten haben) noch Herz und Niere beisammen. Wie dem auch sei, zuhause dann erstmal LSD nachgeschmissen - GLIP GLIP - und "Sieben Tage - Sieben Köpfe" genossen und was soll ich sagen: Oh Himmel auf Erden, diese Linderung! Zwar ließ sich aus meinen verworrenen Notizen keine brauchbare Kolumne mehr destillieren, aber dafür würden Mandys Rehaugen bald strahlen vor Freude. Und also dieser Kalle Pohl, nein, was hat der wieder vom Zaun gerissen...da konnte die Köster, es jecke köllsche Blut bloß... aber davon ein nächstes mal...AHRRRR!
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lenin
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Beitrag von lenin »

Die Don Martin Geräusche scheinen mir durchaus wohlgewählt.
Aber, wo sie mich schon geweckt haben - dann schreib ich hier halt auch mal wieder was rein (bitte umblättern)
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Lenin lernt lesen

Beitrag von lenin »

Zwei Sachen, die mir spontan zu meinem Verleger einfallen: a) dass sein Kunstverständnis, ich habe es vermutlich schon an anderer Stelle erwähnt, gegen limes minus unendlich strebt, und b) dass ich immer denke, er sei die perfekte Besetzung der zweiten Hauptrolle in dem alten Häschenwitz
- Hattu Bücher verlegt?
- Ja, Dutzende.
- Muttu ma suchen!
Andererseits kann man Chefs grundsätzlich in ihrer Funktion als Ersatzväter missbrauchen. Da sie nämlich alle mal auf einem der obligatorischen Kommunikationsseminare gelernt haben, dass man den Problemen seiner Mitarbeiter mit aufgeschlossenem Verständnis entgegenkommen soll, spielen sie dieses Spiel, obschon hospitalistisch, so doch, sich in der Rolle des gutmütigen Onkels gefallend, willfährig mit. Mit anderen Worten, man kann sie, anders als Freunde, die man mit so etwas nicht belästigen möchte, im Zustand einer kleinen Sinnkrise fragend belästigen:
- Ich würde gerne mal was ernstes schreiben.
- Ich dachte, das wolltest du dir für dein Spätwerk aufheben.
- Nein, nicht ernst im Sinne von „die großen Fragen des Lebens“, sondern einfach ernst über etwas vermeintlich Belangloses schreiben. Also z.B. eine Literaturkritik oder über Popmusik. Schließlich verfüge ich kraft meiner Vita über ausreichend Autorität um mich zu solchen Dingen letztrichterlich äußern zu dürfen (in Wirklichkeit verfüge ich beim frühmorgendlichen Weckerklingeln täglich über die unschöne körperliche Ahnung, dass ich mich bereits mitten in meinem Spätwerk befinde...).
- Hm...
- Also, was ich meine ist, glaubst du, ich könnte was schreiben, z.B. eine Plattenkritik, ohne das die ganze Zeit mit an den Haaren herbeigezogenen Pointen spicken zu müssen?
- Dir fallen keine Pointen mehr ein?
Leute mit defizitärem Kunstverständnis besitzen mitunter einen ganz gesunden Blick für das Profane im Leben.
- Nein. Natürlich nicht. Ich meine einfach, weißt du, ich bin ein erwachsener Mensch und
- Lenin! Die Frage kannst du dir nur selbst beantworten. Warum hast du damals angefangen zu schreiben? Weil du lustig sein wolltest? Weil du ernst sein wolltest?
Diese verdammten Kommunikationsseminare, Tand der sie sind, haben bei halbintelligenten Wesen manchmal eine verblüffend eindrucksvolle Wirkung. Er hatte Recht. Die Frage musste ich mir selbst beantworten. Schwierig jedoch, zumal die wahre Geschichte, warum ich anfing zu schreiben, auch gar zu blöd ist, um sie irgendjemand zu erzählen. Es war nämlich so:

Weihnachten vor zwei Jahren bekam ich ein Buch geschenkt: Oscar Wilde - Aphorismen. Darin reiht sich 120 Seiten lang eine Perle der Poesie an die andere:
Ich liebe es, Genies anzuschauen und schönen Leuten zuzuhören.
Die Kunst ist das einzig Ernsthafte auf der Welt. Und der Künstler ist der einzige Mensch, der nie ernsthaft ist.
Man sollte immer verliebt sein. Das ist der Grund, warum man nie heiraten sollte.
Tories, Titten, Temperamente
Whigs und Weiber: Witwenrente

Usw. Ein reiches Füllhorn mokant präsentierter Wahrheiten und daseinslästerlicher Weisheiten, jeder Satz zugleich Ode wie Burleske an Jugend und Schönheit, Liebe und Vernunft.
Allein: Niemand liest so ein Buch. Man kann nicht 1000 solcher klugen Sprüche hintereinander wegschmökern. Ich hätte es also, wie alle Menschen, denen man Sammlungen dieser Art schenkt, ungelesen ins Regal stellen können.
Dort macht sich sowas ganz gut, Besucher denken: „oha, Oscar Wilde, es scheint sich beim Buchbesitzer um einen lebenslustigen Dandy zu handeln, der selten um ein weltgewandtes Bonmot verlegen ist; außerdem bestimmt voll die Granate im Bett.“
Nun habe ich aber selten Besuch, und die wenigen Damen, die ich aus der Discothek mit nach Hause bringe, wissen ja am nächsten Morgen, wenn sie mein Bücherregal überprüfen, bereits, dass ich ein lebenslustiger Dandy...
Also dachte ich: Ich könnte Kolumnist werden. Die einzige potenziell gewinnbringende Verwendung des Buchs, die mir einfiel. In jede Kolumne baue ich eine Handvoll bohème Wildesche Splitter ein, je zwei von dreien gebe ich nonchalant als meine eigenen aus, nur jeden Dritten kennzeichne ich als Zitat, und bald schon liegt mir das Lesevolk zu Füßen. Ragurick-Barbatrick – Masterplan im Kasten.
Deshalb habe ich angefangen zu schreiben.
Ja.
Und neulich hab‘ ich dann auch noch angefangen zu lesen.



Lenin lernt lesen
Eine Literaturkritik


Mein Rechner hatte sich was eingefangen, war vervirt, total vervirt, wie Nena im Refrain von „Nur Geträumt“. Ich redete ihm gut zu, streichelte ihn, machte kalte Umschläge und Bestrahlungen, allein, es half nichts. Fachkundige Hilfe musste her. Ich rief nach der „PC-Feuerwehr“, gab ihnen meinen Computer zu treuen Händen, in Quarantäne, wenn sie so wollen, und bald ward er wieder funktionstüchtig. Allerdings verfügte ich jetzt über keinerlei Software mehr. Bis ich über zwielichtige Bekanntschaften aus der Crack-Szene (what a pun!) das Grundrüstzeug wieder beschafft hatte waren weitere Wochen ins Land gezogen. Alles in allem war ich ca. vier Wochen computerlos, und musste feststellen: Wir leben in einer Gesellschaft, in der man ohne Rechner, speziell ohne Internet, eigentlich nicht mehr lebensfähig ist. Als Kolumnist gar, noch dazu als gerade mal angehender, ist man ohne Textverarbeitungsprogramm schlicht aufgeschmissen. Kommen sie mir jetzt nicht mit „Schreibmaschine“ oder Harry-Valerien-like „wenn sie bitte Papier und Bleistift zur Hand nehmen würden“.
Kein Word, keine Kolumne!
Was also tun, vier Wochen lang?
Der goldene Zeitpunkt, sich einer der abgedroschensten Floskeln zu erinnern: mal ein gutes Buch zur Hand nehmen!
Mein Problem: Ich lese nicht. Also natürlich lese ich sehr oft und viel, aber nicht in dem Sinn, wie die Floskel das wohl meint. Die Bücher in meinem Regal tragen typischerweise Namen wie: Faktizität und Geltung, The Constitution of Society, Dialektik der Aufklärung, Minima Moralia oder, wenn es mal was profanes sein soll, Das politische System Großbritanniens.
Denn: Nur Heiliges verdient, berührt zu werden. (O. Wilde)
Mein Bekanntenkreis jedoch runzelt die Stirn, denkt: „Wie kann man nur?“ und liest einen Roman nach dem anderen. Ich sage: „Kinners, ich kann mit Fiktion nichts anfangen. Man hole nicht erfundenes Leben ins Haus, sondern gehe raus und schaffe echtes, schönes, gutes Leben!“ Aber es hilft nichts. Alle lesen, außer mir, und irgendwann wird man nachdenklich und beschließt: „Ich probier’s mal aus.“
Und so geschah’s. Der Computer war hin, der Zeitpunkt gut, ich befragte einen ansonsten recht geschmackssicheren Freund. Er empfahl mir, zum Einstieg, „was Leichtes: Tommy Jaudt – Der Vollidiot. Ist ganz lustig.“ Mal abgesehen von der Mißtrauen erregenden Henscheid-Anbiederung, hätte mich allein die Wortwahl stutzig machen sollen. Offenbar traut man einem Leseanfänger noch kein vollwertiges Buch zu – lieber erst Mal was Leichtes.

Der Vollidiot. Mein erster Roman seit dem Abitur. Ich kannte sogar den Titel, denn die Stullenkönigin hatte es auch gelesen, allerdings nur fünf Seiten, dann hat sie es weggelegt – es sei blöd. Damals dachte ich: „Des Weibes Launen sind sprunghaft und voller Rätsel, doch ist Schweigen Gebot, wiewohl die Ratio gern früge“ Heute bewundere ich sie als ausgebufften Leseprofi, der bloß all seine Routine ausgespielt hat. Denn ich als Literaturnovize quälte mich durch fast hundert Seiten bis das Buch endlich durch einen ballistisch beeindruckenden 3-Punkte-Wurf in der Tonne landete, die ihm gebührt.
Mann, war das schlecht! Als waschechter Philanthrop verschone ich sie mit Einzelheiten des Grauens, und erzähle ihnen von der einzigen Stelle, an der ich schmunzeln musste:
Der Erzähler berichtet von seinem ätzenden Job in einem Telekomladen. Ätzend, weil man dauernd mit Kunden zu tun hat. Das konnte ich nachvollziehen. Kunden sind ja so was wie die Blindschleichen im marktwirtschaftlichen Zoo. Die Werbung erzählt ihnen unablässig von Kundenservice hier und Kundenservice da, und bald schon glaubt der beschränkte Kunde, es hätte wirklich irgendjemand Interesse an seinen Fragen, Wünschen, Anregungen und Problemen. Liebe Kunden! Das ist bloß WERBUNG! REKLAME! Capito? Niemand interessiert sich in diesem System für etwas anderes als für euer Geld. Und der arme Angestellte noch nicht mal dafür, es wandert ja nicht in seine Taschen.
- Sagen sie, haben sie auch dieses Internet?
- Oh, tut mir Leid, gestern das letzte verkauft, aber nächste Woche kommen wieder welche rein.
Soweit der einzige gute Dialog in meinem ersten Roman seit 15 Jahren. Der gesamte Rest: Krampf! Vorausschauhbarer als Hollywood, abgefrühstückter als ein drittklassiger High-School-Streifen.
Was also tun? Sofort aufgeben?
Erfahrung ist der Name, den die Menschen ihren Irrtümern geben wusste Oscar Wilde, und Extrabreit adjutierten Her mit den Abenteuern! Also weiterlesen.

Ich beschloss, diesmal besser niemand zu befragen und fand in meinem Bücherregal einen Roman von Herrn Stuckradt-Barre, den ich vor einigen Jahren mal geschenkt bekommen, aber natürlich nie gelesen hatte. Livealbum. Um es kurz zu machen: Auch kein wirkliches Kunstwerk, keine Handlung, aber damit immerhin auch keine schlechte Handlung, letztlich nicht mehr und nicht weniger als ein angenehmer Bericht, weil von jemanden erstellt, der ein Talent zum Schreiben hat.
Schwierig allerdings, das Buch in der Öffentlichkeit zu lesen. Leicht paranoid versuchte ich durch umständliches Knicken, welches dem Paperback nicht gut bekam, den Buchdeckel zu verstecken, wenn ich in der Straßenbahn saß. Vermutlich war der Autor mal eine Zeit lang cool, dann berühmt, dann also sofort total uncool, Medienpräsenz im Boulevard, keine Ahnung, ich bin ja Leseanfänger, aber irgendwie kam ich mir mit Stuckradt-Barre so up-to-date vor, wie ein schnauzbärtiger Besucher einer Vorstadtdisco, der seinen Nebenmann bei der Mission Impossible-Theme von Limp Bizkit anno 2004 fragt, was denn das fürn abgefahrner Sound sei, sowas habe er ja noch nie gehört, das rocke ja wohl voll usw.
The loneliness of the long-distance-reader.
Ich habe es dann in der Bahn nicht mehr gelesen, sondern im Fitness-Studio; da fühlte ich mich unertappt. Die höchstens drei anderen, die dort lesen können, kennen nur Koransuren oder das Manifest der kommunistischen Partei Bulgariens.
Kommen wir einfach gleich zur besten Stelle:
Es geht darum, dass man in Bahnabteilen am liebsten allein bleibt, und Fahrgäste, die sich an Folgebahnhöfen dazugesellen wollen, nicht gerade wohlgelitten sind.
Man mag sie aber (die Zusteigenden) exakt proportional zur Reihenfolge ihres Auftretens: Wer zuerst kommt, ist noch ok, alleine wäre es schöner, aber es ist ja wirklich noch genug Platz da, und dass man sich schon prima aneinader gewöhnt hat, merkt man spätestens, wenn ein Dritter hinzukommt. Zunehmend mißmutig nun wird man die Formfrage, ob denn hier vielleicht noch ein Plätzchen frei sei, gemeinsam beantworten, und im Schulterschluss wird der Neue als Eindringling empfunden und als Störenfried vorverurteilt, als sauerstoffreduzierender Beinfreiheitsberauber. Aber immer noch erträglich, gemessen an dem, der es nun noch wagt, aus 3 tatsächlich 4 machen zu wollen. Und so weiter. Der sechste schließlich könnte die Tür aufmachen und statt „Ist hier noch was frei?“ zu fragen auch gleich Zigarre rauchen, im Dreiminutenrhythmus Anrufe auf einem Melodie-Handy empfangen, tropfende Zwiebelpizza essen und brüllen: „Heil Hitler, ihr Wichser, ich würde meinen arischen Arsch jetzt gerne auf dieses hübsche Plätzchen drücken, und wem das nicht passt, der kann gerne meine Sport-Bild essen, bevor ich ihn“ usw., also das würde die ihm entgegenschwappende Unsympathiewelle nicht wesentlich potenzieren.Wer sowas mag, sollte die forumsimmanente Skepsis gegenüber diesem Autor noch Mal durchdenken. Ich musste immerhin ein/zwei Mal laut lachen, und das ist, bei einem Buch, schon ein ziemlich exorbitanter emotionaler Ertrag.
An diesem Punkt greift übrigens wieder meine Leseskepsis. Warum einer Kunst sich widmen, die einen auf z.B. 300 Seiten vielleicht zweimal merklich rührt, wenn man beim Hören eines guten Songs in nur drei Minuten in Tränen ausbrechen kann? Musik hat einfach u.a. eine körperliche Komponente (weshalb sie ja auch laut am geeignetsten genossen wird), die allen anderen Künsten – ob nun Literatur oder Malerei oder was sonst – abgeht.
Einfacher: Auf Böll kann man nicht tanzen, zu Lenz nicht Liebe machen, bei Weinert muss man nicht weinen, bei Zuckmayer nicht zucken, und zu allen anderen wird man auch niemals „Teil einer Jugendbewegung sein“.

Aber ich schweife ab. Es soll ja hier nicht darum gehen, dass Musik die höchste aller Kunstformen ist. Das steht ohnehin außer Frage. Vielmehr wollte ich ja erklären, warum mir ein Sachbuch über Benjamin u.U. mehr Lesespaß bereitet als ein Roman.
Folgen wir also weiter der Chronologie: Noch immer wollte ich der – im weitesten Sinne – Popliteratur nicht ganz den Rücken zukehren. Dann also mal ein Autor, den wirklich alle loben: Frank Schulz. Ich besorgte mir sein Erstlingswerk Kolks blonde Bräute, auch um einen besseren Vergleichsmaßstab anlegen zu können, denn von Herrn Jaudt hatte ich ja auch nur das Debüt gelesen.
Mein Onkel sagte immer: „Kein Arsch inne Hohse, aber im Puff drängeln!“Das war jetzt aus der Erinnerung zitiert, ich will auch hier gar nicht mehr wiedergeben, da die meisten von ihnen das Buch vermutlich ohnehin selbst gelesen haben. Machen wir es also erneut kurz: Natürlich liegen zwischen Schulz und Jaudt Welten, Schulz‘ Buch beweist sogar einen gewissen Sinn für Form, und Dialoge schreiben kann er wie wirklich wie ein Großer. Nichtsdestotrotz fand ich auch hier wieder Ansätze zum Meckern.
Menschen wie mein Verleger sagen gern Sätze wie: „Du musst Sachen schreiben, in denen die Leute sich wiederfinden können.“ Das ist m.E. totaler Mumpitz. In vielem von dem, was Herr Stuckradt-Barre und Herr Schulz schrieben, fand ich tatsächlich große Parallelen zu meiner eigenen Biographie. Aber das scheint mir gerade das Manko dieser Art Literatur zu sein, dass sie, nicht obwohl sondern weil einem die ganze Zeit im Grunde das eigene Leben erzählt wird, diese Vertrautheit zwar vielleicht das Schmökern vereinfacht, der Kunst an sich aber eine ihrer wichtigsten Komponenten raubt, nämlich die Erhabenheit.
Die einzig wirklich schönen Dinge sind die Dinge, die uns nicht betreffen. Solange uns ein Ding nützlich oder notwendig erscheint oder uns irgendwie bewegt, (...), solange es einen wesentlichen Bestandteil unserer Umgebung darstellt, ist es jenseits der Kunstsphäre. (O. Wilde)

Also Schluss mit leichter Muse, und back to old-school Abi 89 – ein Klassiker musste her.
Ich entschied mich für Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein. Das hatten wir in Deutsch-Leistung nicht, und den Namen des Buchs fand ich schon immer angenehm bescheuert.
Die Idee war eine gute. Das Lesen bekam seine Würde zurück, der Klassiker fühlte sich gleich wie ein solcher an, das war nun wirklich Kunstkonsum im verstaubtesten Sinne des Wortes. Bei so einem Buch ist am besten gerade Weihnachten oder zumindest Winter. Draußen ist es dunkel und kalt, aber drinnen gluckst und knackt das Kaminfeuer, während Pfeifenrauch den Raum mit einem Vanillenaroma schwängert und die Keksdose, strategisch einwandfrei positioniert, in Greifreichweite lauert.
Jaudt, das war abgestandene Fanta, Stuckradt-Barre war Wodka-Red Bull, Schulz war ein nullfünfer Astra und der Klassiker ein mittelschwerer Portwein.
Nicht dass ich jetzt ins Schwärmen geraten möchte. Weihnachten und Portwein symbolisieren ja nur die Lesehandlung, nicht das Gelesene. Und vom reinen Inhalt her muss ich leider auch Herrn Frisch ans (in Deckung gehen!) Gantenbein pinkeln.
Die Literatur hat nämlich ein weiteres Problem: Anders als Musik und Malerei ist sie verdammt zum Inhalt. Meist hat sie einen banalen, den sie banal erzählt, wie Herr Jaudt, oder einen banalen, den sie lustig erzählt, wie die Herren Stuckradt-Barre und Schulz, oder einen vermeintlich recht komplexen oder wenigstens in komplexen semantischen Bauten verbrämten, der uns aber schlussendlich, quasi als interpretatorisches Destillat, doch seinen allzumenschlichen Kern zu offenbaren sucht, was dann um so ernüchternder ist. Wenn es am End‘ also, so oder so, stets wieder nur um Eifersucht (Frisch) oder Typ-will-Tussi-kennenlernen (Jaudt) geht, dann fragt man sich schon, ob das den Einsatz an Lebenszeit wert ist, den man für ein paar hundert Seiten Schrift erbringt.
Banale Inhalte haben nämlich einen schlichten aber untilgbaren Malus: Sie langweilen auf Dauer, so wie ihre Blaupause, das banale Leben.
Und geht es nachgewiesenerweise mal wirklich in metaphysischere Dimensionen, wie meinethalben im Faust (Altvater Goethen), so wird solch Versuch wahlweise ignoriert, als zu hehres Streben/zu großes Fass zum Scheitern vorverurteilt, oder von einer schlagkräftigen Koalition aus Volksempfinden, Psychoanalyse und manch ernstgemeinter Literaturwissenschaft doch wieder auf eine Gretchengeschichte als seine eigentliche Essenz, reduziert.

Und hier scheint mir, nach meinem kurzen Ausflug in die Welt der Fiktion, auch der Hauptgrund für meine bisherige Lesegewohnheit zu liegen:
Neben der sprachlichen Erhabenheit und damit beinahe schon automatisch testierten literarischen Kompetenz des ein oder anderen fälschlicherweise als „Sachbuchautor“ verleumdeten Philosophen, ist es einfach so:
Ein Adorno oder Searle oder Popper schreibt einfach die besseren Stories, weil es um nicht ganz so abgeschmackte, und daher naturgemäß mitreißendere Fragen geht. Wenn sich die Offenheit für solche guten Geschichten mit dem Talent zu guten Formulierungen paart, dann erst ist endlich ergreifende Literatur am Start.
Denn es geht mir hier bitte nicht um die Zurschaustellung intellektuellen Dünkels oder gar um wissenschaftliche Erkenntnis; es geht mir, mal wieder, ausschließlich um Kunst.
Minima Moralia ist einfach ein verdammt guter Kolumnenband und das Kulturkritik-Kapitel in der Dialektik der Aufklärung bis heute die beste Popliteratur, die mir in die Finger gekommen ist: bashing, polemic, ass-kicking und deshalb schlicht: unterhaltsam!
Anders, nämlich abschließend noch ein Mal in ganz einfachen Worten, augedrückt:
Bild-Zeitung: Scheiße;
Dürrenmatt, Handtke, Frisch: ok;
Luhmann, Sartre, Adorno: Weltklasse

Diese simple literarische Hierarchie wollte ich ihnen ans Herz legen. Lassen sie sich aber bitte nicht beirren, wenn sie gerne Romane oder sogar Popliteratur konsumieren. Im allgemeinen sind Menschen, die das tun, sympathische Wesen, und außerdem: ich lebe ja von Ihnen.

Nachtrag für die Leser: Habe das Experiment vorerst auf Eis gelegt, mir einen MAD-Almanach und eine aktuelle Dazed and Confused geschnappt, und das nächste Mal schreibe ich ihnen wieder was Unernstes.
Man kommt ja recht gut ohne die Philosophie zurecht, sobald man sich erst mit schönen Dingen umgibt (O.Wilde)
Bild
I don't use poetry, art or music to get into girls' pants,
I use it to get into their heads.
lenin wg. bb-coden abgmld

Kolumne umstdhlb. abzg., VB: Null Euro

Beitrag von lenin wg. bb-coden abgmld »

Kolumne umstdhlb. abzgb., VB: Null Euro


Dem Leser der letzten Kolumne konnte fälschlicherweise der Eindruck entstehen, Lesen beschränke sich auf das Lesen von Büchern. Dabei bietet das Leben ein wahres Füllhorn an weiteren schönen Lesevergnügen. Die Welt ist voller Schrift, allüberall gibt’s was zu lesen.
Am Anfang war das Wort, das vermehrte sich sogleich insektenartig, und heute ist so viel Schrift, dass mancher Poststrukturalist darüber deppert geworden ist.
(to make an irreverent but big philosophical joke: dass mancher Poststrukturalist ein wenig neben die „Spur“ geraten ist)
Jedenfalls: Words don’t come easy (F.R. David) scheint mir eine eher unzutreffende Feststellung zu sein, weshalb ja auch folgerichtig gefragt wurde: Was macht F.R. David eigentlich heut‘? (Fishmob)

Zum Beispiel gibt es Menschen, die geben den Druck von Schildern in Auftrag,
und andere - wir - dürfen sie dann lesen.
Jahrelang stand auf Platz Eins meiner persönlichen Schilder-Charts die Anweisung:
„Bitte beim Abspritzen stets in der Sicherheitszone verweilen!“
Fürwahr ein hilfreicher Hinweis, sollte man doch, wenn die Liebste oder die Mitbewohner nach Hause kommen, nicht unbedingt gerade wichsend im Flur stehen; das zieht zumeist unkomfortable Wortwechsel nach sich, in denen sich emotionale Atavismen offenbaren, welche man ungern an erster Rangstelle auf seinem Grabstein publiziert sähe.
Wiewohl gerühmt ob seiner Ratio
so träumt‘ doch stets er von Fellatio
mit Strapse-Girls auf Latex-Parties
sowie auf roten Maseratis
Doch ist bei Träumen man wie diesen
meist auf sich selber angewiesen
Ist ja mitunter auch ganz schön
Nun ruhe sanft, oh Gumbo Fröhn
Allerdings hing das Schild gar nicht in einem WG-Flur, auch nicht in einer Peep-Show, sondern in einem Knast. Prima, sagen sie jetzt, passt doch auch!, weil sie zu viele Filme gesehen haben, in denen sich Neuhäftlinge in der Dusche nach runtergefallenen Seifen bücken müssen. Aber nein, sage ich, das Schild hing in einem Bereich, zu dem Häftlinge keinen Zutritt hatten.
A propos Flur (altfränkisch: Ern). Platz zwei bislang:
„In der Fahrkabine bitte nicht mit Flurförderzeugen aufstoßen!“
(Backstageaufzug in irgendeiner Musikklitsche in Dortmund)
Auch eine Anweisung fürs Leben, die sich bitte jeder Leser künftig zu Herzen nehme.
Aufstoßen geziemt sich in Kreisen erhöhter gesellschaftlicher Reputation ohnehin wenig, und mit Flurförderzeugen schon gar nicht.
Seit neulich gibt es einen Shooting-Star in den Charts, der zumindest für einige Wochen von Null auf Eins durchgebrochen ist. Im Frankfurter Palmengarten findet sich das wunderschöne Schild:
„Bitte keine Wachteln in die Mangrove laufen lassen!“
Auch dieser Zurechtweisung folgte ich widerstandslos, obschon Rock’n’Roll is Disobedience (Bela B.), aber wie zum Teufel handelt man in diesem Fall zuwider?
Andererseits, wo kämen wir auch hin, wenn jeder dauernd seine Wachteln in die Mangrove...
Rod Stewart hatte mal einen Gitarristen, der hieß Waddy Wachtel. Das ist auf deutsch ausgesprochen ja schon fast wieder gut, aber englisch ausgesprochen hieß der Typ vermutlich (ich habe leider keine Lautschrift auf meiner Tastatur): Woddi Wecktel. Nicht schön.

Ferner gibt es, wo wir beim Thema Knast waren, in einem Micky Maus Taschenbuch das nette Schild im Trennscheiben-Besucherraum:
„Es ist verboten, den Häftlingen Feilen mitzubringen!“
Das fand ich damals, äh, lustig. Entschuldigung, I always liked simple Rock (J. Lennon, anno 1970 laut Cover Fehlfarben/Monarchie und Alltag)
In irgendeiner B-Movie-Knastfilm-Komödie laufen im Hintergrund immer Durchsagen über Lautsprecher an alle Knast-Insassen. Die schönste ist:
„Die Häftlinge, die dauernd die Lautsprecherkabel durchschneiden, werden ge“
Das mag simple Rock sein, aber es ist wirklich sehr sehr gut.
Es ist aber auch, ich gestehe, eine Abschweifung, denn es soll hier ja um lohnendes Lesewerk gehen, nicht um das pubertäre Austauschen von Filmwitzen. Also schnell zurück zum Thema.

Auch auf Zetteln handgeschriebene Gebote wissen mitunter zu gefallen. An der Haustür des Mietshauses eines Freunds hing folgendes Kleinod:
„Bitte die Haustüre abends immer abschließen, da die Haustüre sonst nicht abgeschlossen wäre und die Haustüre immer abgeschlossen werden muss. (Schiller)“
Dass von der Muse der Poesie derart obviös ungeküsste Wesen, wie dieser Hausmeister, dann auch noch ausgerechnet Schiller heißen, dafür darf man dem Weltgeist dann schon mal dankbar sein.

Lohnend ist auch die Lektüre sogenannter Anzeigenblätter, also Zeitungen, in denen Menschen versuchen, ihre nutzlose kellerangegammelte Schatulle mit Tand noch an irgendwelche nichtexistenten Sammler o.ä. zu verhökern. Oldschool-Ebay, sozusagen.
„Espressomaschine Paccino, 840 W, def., zieht kein Wasser, Lampen leuchten, 10 Euro“
Ein Schnäppchen! Genau das richtige für Leute, die keine Heißgetränke mögen, aber noch zu viel Platz in ihrer Küche haben. Sie mögen denken, der Inserent habe vermutlich schon die „Lampen leuchten“ gehabt, aber ich fürchte es ist ernst gemeint. Denn die ganze Zeitung ist voll von Tausenden solcher Anzeigen, in denen in einer absurden Verkennung der Macht- und Marktverhältnisse Armaden von Möchtegern-Schlaumeiern versuchen, aus der an sich kosten- und nervenaufreibenden Entsorgung von Sperrmüll auch noch irgendwie Kapital zu schlagen. Und zwar meist in einer Höhe (10 Euro), die kaum die Mühe des Verfassens und Abschickens des Inserats aufwiegt. Anschaulicher lassen sich Pfennigfuchserei und Krämermentalität des Menschengeschlechts kaum vorführen.
„Kyrillische Schreibmaschine, elektr., deutsches Erzeugnis, nie benutzt, 5 Euro“
Dass dieses „Erzeugnis“ nie benutzt wurde, hätten wir auch so geahnt.
„WC-Drückergarnitur, Geberit, weiss, für Wandsplkst., 10 Euro“
WC-Drückerkolonien treiben ihr halblegales Spiel scheinheilig getarnt als harmlose Kleinanzeigen-Inserenten.
„Gaskamin Heizautomat Typ 57-70 Gasfire von Oranier“
Auch alte holländische Adelsgeschlechter sind also am Werk. Oder ist das sogar irgendein Geheimcode aus der rechten Szene?
Doch es wird noch viel abgründiger:
„Expressokocher neu. Nie benutzt! Von Domina mit 6 Tassen und Verpackung. Preis? VHS!“
Ok, VHS versteh ich, heißt Volkshochschule resp. Video 2000. Aber ist jetzt die Verpackung der Domina gemeint? Darüber ließe sich verhandeln. Vielleicht mal auf einen Expresso vorbeischauen...
So langsam schwant mir jedenfalls, dass das alles nur eine mit verdeckten Karten gespielte riesengroße Schweinigelei ist. Und plötzlich liest sich so einiges in einem ganz anderen Licht:
„Ton-Amphore mit Ständer, für Innenbereich, 15 Ero“
„Wer hat Interesse am Klöppeln oder Occhi?“
Aha! Mit Ständer! Für „Innenbereich“! Klöppeln oder Occhi! Nein, nein, meine Damen und Herren, die 15 „Ero“ sind kein Druckfehler, ich habe diesen lauwarmen Mummenschanz längst durchschaut.
„Heidschnucken, 2x, wunderschön, weibl., an gt. Platz, VHS“
Schon kapiert.
„Pärchen Venezuelaamazonen, sehr brav, mit Käfig, nur zusammen, VB 900“
Sehr brav fände das die Sittenpolizei nicht gerade.
„Su. gü. fktf. oder leicht def. TV“
Transvestit!, klar. Vermutlich an gt. Platz oder mit Käfig, jedenfalls fktf.

Aber auch die nicht-zweideutigen Anzeigen lassen den ein oder anderen Abgrund sich auftun. Es wird aber auch wirklich alles und jegliches feilgeboten:
„Krückstock, neu, Buchenholz lack., NP im orthopäd. Gesch.: 28,-; 10 Euro“
Auch die ganzen Abkürzungen gefallen mir übrigens sehr. Denn da es sich um ein kostenloses Anzeigenblatt handelt, könnte man natürlich auch getrost alles ausschreiben. Doch in der Kürze liegt scheinbar die Würze.
„Privileg, voll Zick-Zack, im Holzschrank, 20 Euro“
Ich denke darüber nach.
„Siemens, 10 Euro“
Da steht einer feindlichen Übernahme ja nichts mehr im Weg. Den Konzern einfach mal so voll zick-zack in einem Handstreich mitgenommen. Andererseits, die Neue Heimat gab’s damals für eine Mark. Vielleicht lässt sich ja noch was runterhandeln.
„Maulaffen, handzahm, an Selbstabholer“
Schon gut, die war ausgedacht.

Und schließlich die ganz kryptische Ecke:
„Bauspriessen verzinkt, 13 Euro; Deckel für Revisionsschacht, 25 t., 20 Euro; Dokaträger, Zementkübel, Lochband."
Hm, einen neuen Deckel für meinen Revisionsschacht könnte ich ja schon gebrauchen.
„Löse meine Stereo-Mikroskop-Sammlung auf“
Wieviel Watt? Mit Booster oder Subwoofer? Kann ich meine Lochbänder darauf abspielen? Das möchte man schon genauer wissen.
Und last but not least:
„60kg Lasagne-Nudelplatten, MhD, 30 Euro.“
Wenn mal wieder etwas mehr Gäste im Haus sind. Wünsche jedenfalls guten Appetit.


Ok. Sie haben schon gemerkt, ich hab‘ mal Musik gemacht. Deshalb noch schnell eine der unzähligen Lieblingsgeschichten aus der fast zehnjährigen Zeit der Rockandrollerei:
Je wichtiger man wird, desto mehr bekommt man bei Auftritten echte Backstageräume.
An den Türen und in den Fluren hängt dann immer ein Zeitplan für alle Beteiligten, mit den Zeiten für Soundcheck, Essen, Auftritt etc.
Natürlich schreiben die Deutschen da nicht einfach Zeitplan drauf, sondern verwenden beflissen das dafür als amtlich erachtete englische Wort schedule. Der durchschnittliche deutsche Roadie/Mixer jedoch hat wenig Abitur und Sprachgefühl und spricht das dann (mir fehlt wieder die Lautschrift) scheddel aus.
Einst waren wir im Schwarzwald bei einem von einem Motorradclub ausgerichteten Festival, und die Jungs waren wirklich rührend bemüht, alles voll rockstarkompatibel professionell zu organisieren. U.a. hing halt an jeder Backstagetür eine liebevoll ausgetüftelte
shuddle.
„Schaut einfach auf die Schaddel, dann wißt ihr, wann ihr dran seid.“ Scheddel stand verständlicherweise nicht in deren Wörterbuch, also wurde es gutgemeint und dem eigenen Vokabelschatz entsprechend halt irgendwie umgeenglischt. Den Space-„Shuddle“ kennt man auch im Bezirk Titisee-Neustadt.
Diesen unbedarften Versuch von Außenseitern, sich einem Fachjargon zu bedienen, um sozusagen Zugehörigkeit zur Szene zu demonstrieren, darf man natürlich beschmunzeln.
Doch bekanntlich trägt jeder Witz auch einen tragischen Kern. Und weitaus weniger lustig wird das Ganze schnell in Zusammenhängen des alltäglichen Geschehens, wenn, wie z.B. in dem von mir immer wieder gern angeführten Fall des Computerprogramms Excel, das Falsche Omnipräsenz und damit die Macht des Unausweichlichen erlangt. Hier hat sich die jedermännische Eggselei dermaßen durchgesetzt, dass korrektes Aussprechen gar nicht mehr gesellschaftsfähig ist. Wer Excel sagt, wird von seinen Mitmenschen im besseren Fall nicht verstanden, im schlechteren für einen arroganten Sonderling gehalten.

Was soll ich lästern? Die Kolumne war bis hierhin ja eher cremig-leicht, und wer hin und wieder eingedenk der schieren Einfalt seiner Mitmenschen zur Resignation neigt, dem sei abschließend folgender Lösungsvorschlag unterbreitet:
Wir kapern den Shuttle und hauen einfach ab
(R. Heil, aka: r-r-r-reinholdreinholdreinhold)
Wenngleich die Allgegenwart der Schrift im Weltraum noch nicht ganz so ausgeprägt ist. Dass einem das durchaus fehlen könnte - darauf hinzuweisen war mein heutiges Anliegen.
Probieren sie bitte auch Beipackzettel von Medikamenten und alles Kleingedruckte auf Lebensmitteln.
(alle Kleinanzeigen zitiert aus: das inserat, Nr. 02/2005, 11.01.-13.01.05)
Gast

Beitrag von Gast »

lenin hat geschrieben:drückerkolonien
wo hier im Forum gerade so viel von Fehlern die Rede ist: bin ja ein penibler Solchevermeider, aber hier habe ich es tatsächlich tagelang selbst nicht gemerkt. Es handelt sich natürlich um WC-Drückerkolonnen. Für einen Lenin sollte es ja ohnehin statt Kolonialismus immer Imperialismus heißen, nicht wahr?
passe demnächst (noch) besser auf
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Beitrag von lenin »

Schnucki, ach Schnucki, spiel mer mit der Uzi
Die Lüneburger Heide und Israel

(wieder ein Reisebericht)


Der finnische Literaturfrühling beginnt verheißungsvoll:
Akklimati Klimaanlaginnen präsentiert seine stark autobiographische Krimi-Novelle
„Ik poppofikkätät Suomi Campbell“
Viel zu tun für die Jungs von der Helsing-Force. Scheinbar sind Schäferstündchen und Verbrechen die einzigen Abwechslungen im Land der tausend Mobiltelefone. Skandinaiv die Bewohner, spröde der triste und kalte Alltag: Nachts kräht der Oulu, morgens gibt’s Sauna mit Aufgussgetränken, mittags Blättertaiga und abends hausmacher mecklenburgische Seenplatte. Überhaupt dreht sich hier alles um Seen und gesehen werden. Ansonsten: Permafrust!
Are you finnisch? No friesisch!

Die Kolumne beginnt gar nicht verheißungsvoll?
Durchatmen, ich war gar nicht in Finnland, sondern nur in der Lüneburger Heide. Und die ist immerhin so langweilig, dass man mitunter auf abstruse Gedanken kommt.
Außerdem: Als grundsolider Alltagsbeobachter muss man seine Leser ab und an mit einer Prise urban-trash überraschen, sonst gilt man schnell als „grundsolider Alltagsbeobachter“, und die Einschaltquote sinkt.

Am Anfang stellt sich natürlich die Frage: Wie kommt ein Mensch in die Lüneburger Heide? Nun, es war Ostern, vier freie Tage am Stück, eines der kostbaren Frühlingsjuwele im Leben des fremdbestimmt arbeitenden. Eigentlich sollten es vier tolle Tage werden, doch good-ole Petrus hatte mal wieder (O-Ton Petrus:) „echt null Bock schon wieder einen auf Philantrop zu machen“. Und ließ es in ganz Deutschland regnen.
Ganz Deutschland? Nein, ein kleines gallisches Dorf namens Hamburg leistete auf den Wetterkarten bis zum Schluss sonnig-trockenen Widerstand. Also alles Klein- und Schwarzgeld zusammengesucht, und ab in den Norden. Ein verregnetes Osterfest? Nicht mit mir, meine Damen und Herren, ich habe wetter.de!
Da Hamburg nun nicht das Traumziel per se des Natur- und Wanderfreundes ist, hieß es ein paar Kilometer weiter südlich aus dem IC steigen – bereits im Kinderhirn gereifte vage Ideen einer unberührten Idylle mit schnuckeligen Schnucken und vollbärtigen Schäfern bereicherten die Versuchung, und so geschah’s. Schnuck sind doch nur sie, schnuck!
Die Heide ist ein ziemlich gottloser Flecken - ihre berühmtesten Söhne sind bekanntlich der Haide Hermann und der Lude Löns. Viel Gedöns um Löns ist denn auch so ziemlich das einzige was den dortigen Tourismusämtern einfällt. Zum Wandern ist die Heide gänzlich ungeeignet, es sei denn, man steht auf fünfundzwanzig Kilometer Geradeauslaufen auf breiten Forstwegen durch völlig flaches Land.
Zum Radfahren ist es wohl meist zu windig, und um sich mit Kutschen in ein autofreies Kaff fahren zu lassen, sind wir, mit Verlaub, eben doch noch ein bißchen zu jung. The kids want knutschen not kutschen, alright? Nach zwei Tagen Wanderfolter landeten wir folgerichtig und entsprechend glücklich dann doch bei Freunden in Hamburg und verlebten einen angenehm feuchtfröhlichen Abend. Aber: kein Flecken Land ist so, dass es nicht doch ein paar Kleinigkeiten zu berichten gäbe.
Die erste Station war Uelzen, die Stadt der Erdnüsse. Und ich fragte mich zwei Tage lang ernsthaft, warum im Reiseführer nicht ein Wort über ebenjene Erdnüsse zu finden war. Bis mir meine markennamenaffizierte Fehlassoziation bewusst wurde. Trotzdem hat Uelzen etwas einzigartiges, was aber auch in keinem Reiseführer erwähnt wird. Es gibt dort nämlich den Hundertwasser-Bahnhof. Dieser ist zwar zunächst nur eine steingewordene Geschmacksverirrung für Freunde japanischer Wellnessbad-Architektur, aber er verfügt über das unangefochten sauberste Bahnhofsklo der Welt. Wirklich! Wanderer kommst du nach Uelzen, so genieße deinen Durchfall. Auf diesem Klo könnte man ungelogen vom Fußboden essen. Zwar zahlt man die DB-üblichen 70 Cent für seine Notdurft, aber die zahlt man im Frankfurter Hauptbahnhof auch und stolpert trotzdem über liegengebliebenes Junkie-Besteck und sonstige Bagaluten-Accesoires. Uelzen, die Stadt mit dem saubersten Bahnhofsklo der Welt! Das wär‘ doch mal was, womit die Tourismus-Fuzzis hausieren gehen könnten.
Lüneburg hingegen wird von letzteren als „das Amsterdam des Nordens“ feilgeboten, und das ist mal wieder schlicht gelogen. Keine Spur von volltrunkenen Briten, die in die Gosse kotzen, und nebenbei bereits den nächsten „Doner Kaybap and make it very, very hot!“ bestellen. Wenig nackte Mädchen in Schaufenstern. Und Coffee-Shops? Ebenfalls Fehlanzeige. Dabei ist Lüneburg eigentlich ganz schön. „Lüneburg –eigentlich ganz schön!“ war den Tourismus-Fuzzis aber offenbar nicht funky genug.

Was gibt’s noch in der Heide? Einen ca. sieben Millionen Hektar großen Truppenübungsplatz der Bundeswehr. Natürlich fragt man sich als pazifistischer Weltenbetrachter beim stundenlangen Entlangwandern am Zaun des „militärischen Sicherheitsbereichs“ schon, ob sowas heutzutage noch zeitgemäß ist, bzw. überhaupt sein muss/jemals sein musste. Aber andererseits muss man anerkennen, dass dieser eingezäunte Naturspielplatz für picklige Rotkäppchen, einmal für die Zivilisation freigegeben, eben längst nicht mehr aus Bäumen und Wiesen bestünde, sondern stattdessen vermutlich diverse Ralf-Schuhmacher-Fun-Kart-Bahnen, Einkaufszentren und Aldiparkplätze beherbergen würde. Ein letztes, großes Naturreservat dank Panzern und Latrinen! Geharnischt wird die Welt gerettet! „Sad but true“ (Metallica).
Was macht man, wenn der eigene Wille einen dazu verdammt hat, zwei Tage lang stur geradeaus zu laufen? Man denkt sich Nordic-Walking-Witze aus: Kommt ein Nordic-Walker zum Arzt: „Herr Doktor, ich geh‘ am Stock“. Treffen sich zwei Nordic-Walker – beide (schein-) tot. Anderes Wort für Nordic-Walker?: Dreck am Stecken! usw. Irgendwie muss man sich ja am Leben erhalten.
Nebenbei: Das interessanteste an dieser ganzen verrückten derneuetrendsportnordicwalking-Medienhysterie finde ich des Deutschen Verführbarbarkeit mit dem Ruch des Skandinavischen (Finnland et al.). Es dürfte völlig klar sein, dass niemand jemals auf diesen Nonsens hereingefallen wäre, wenn man es z.B. Bayrisch-Walking getauft hätte.

Nach sechzehn Stunden Wandern durch die Lüneburger Heide sahen wir übrigens tatsächlich endlich einen Schäfer mit einer Herde Heidschnucken. Ein Schäferhund bei der Arbeit ist ein überaus faszinierender Dressurakt. Der Schäfer hingegen war nicht nur viel jünger als auf den Reiseführerfotos, sondern auch not so amused ob der Hundeperformance, und schlug seine Töle erstmal ordentlich mit dem Stock windelweich. Unter wüsten Beschimpfungen auf tiefstem Ostdeutsch. So viel zum Thema Idylle.

Nicht, dass ich jetzt urplötzlich zum Hundeliebhaber mutiert wäre, aber zu einem die-hard-Menschenfan erzieht einen das Leben eben leider auch nicht. Jeder landläufige Misanthrop glaubt seit altersher, dass „der Mensch dem Menschen ein Wolf ist“ (Thomas Egges) und „Wölfe sterben niemals aus“ wusste immerhin Peter Maffay. Ob ausgerechnet ein Israel-Urlaub diesbezüglich Linderung verspricht?
Wollten Sie vielleicht schon immer mal in einer guten Stunde von Barcelona nach Istanbul reisen, bei bequemen hundertzwanzig im Schnitt? In Israel geht das. Tel Aviv ist nämlich wie Barcelona und Jerusalem wie Istanbul. Und Israel sehr klein. (Ein etwas gewagter Vergleich, kenne ich doch Barcelona und Istanbul beide nur vom „Hörensagen“). Jedenfalls grüßt man sich in Jerusalem noch mit dem altfränkisch-korrekten Shalom, während sich in Tel Aviv ein jugendlich-flottes Hey Jude eingebürgert hat.
Israel ist so groß wie Hessen, und auch sonst stimmt einiges überein. (Für nicht-Hessen: Wir haben hier ein dicht besiedeltes geographisches Dreieck, etwa zwischen Wiesbaden, Darmstadt und Frankfurt, und daran schließt sich eine dreihundert Kilometer lange Wüste an, Richtung Norden bis Kassel.)
Israel ist auch so, nur dass sich die dreihundert Kilometer lange Wüste nach Süden erstreckt. Außerdem ist Israel doof. Stressig, uneinladend, unfreundlich. Hier werden dem Touristen seine Schekel mit einem herzhaften
- Thank you.
- You’re welcome
- You’re not!
abgenommen. Dafür ist die Reisevorbereitung prima. Über wohl kein anderes Land gibt es so viel interessante und teilweise auch abstruse Sachen im Reiseführer zu lesen. So gibt es z.B. die Volksgruppe der Black Hebrews. Die Mitglieder dieser Sekte sind allesamt schwarzer Hautfarbe und behaupten, die wahren Abkömmlinge eines der zehn verlorenen israelitischen Stämme zu sein. Und also drängen sie ins gelobte Land. Die israelische Verwaltung plagt sich nun schon seit einigen Jahrzehnten mit den Black Hebrews herum. Denn einerseits ist, ob der Hautfarbe, jedem ersichtlich, dass es sich nicht um Israeliten handeln kann, andererseits ist aber das Rechthabenwollen mit Rasseargumenten in Israel so eine Sache. Also werden sie unter immer neuen juristischen Verrenkungen bis heute geduldet und vermehren sich derweil gemäß ihrer obskuren religiösen Regeln (Promiskuität ja, Verhütung nein) wie die Kaninchen.
Man sollte also eine Israel-Reise planen, sich ausgiebig vorbereiten/einlesen und sie dann in letzter Sekunde canceln und woanders hin fliegen. Dann hätte man alles richtig gemacht.

Ich hingegen war da und stelle fest: Meine in den letzten Jahren etwas gestiegene Toleranz gegenüber Kirche und Religion, die mich auf Reisen zumindest zu einem interessierten Kirchenbautenbestauner hat altern lassen, ist erstmal wieder dahin. Guter und bewährter, dogmatischer Atheismus ist an ihre Stelle getreten. Denn kaum irgendwo sonst auf der Welt dürfte einem die eben doch nicht zu leugnende geistige Nähe von Glaube und Maschinengewehr und deren selbstverständliche Kompatibilität mit dem, was man hochtrabend als Ökonomie bezeichnet, so plastisch und allgegenwärtig vor Augen geführt werden. Freundliche oder gar glückliche Menschen gibt es dort jedenfalls nur sehr wenige.

Außer im Kibbuz. Kibbuz ist selbstgewählter Sozialismus, wenn sie so wollen, und eine Oase der friedlichen Menschlichkeit. Ein Herr Lafontaine würde wahrscheinlich feuchte Augen bekommen, ob der dort gelebten, und auf den Betrachter als funktionierend erscheinenden, besseren Welt.
Ich jedenfalls bekam feuchtere Augen als in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, in der ich mich nur allzugerne der geerbten Kollektivschuld hingegeben hätte. Yad Vashem war irgendwie zu amerikanisch für tiefgehende Emotionen. Überhaupt gingen mir einige Amerikanismen der Israelis deutlich auf den Wecker: Als wir den direkt hinter dem Kibbuz gelegenen Naturpark zwecks einer Wanderung betraten, wohlgemerkt auf einem in der Karte ausgewiesenen Wanderweg, stoppte uns sofort ein Ranger (natürlich mit umgehängter Uzi – in Israel tragen auch Kindergärtner Maschinenpistolen), und klärte uns darüber auf, dass man das Gelände nur über den hinter dem großen Parkplatz gelegenen Haupteingang inklusive Kassenhäuschen betreten dürfe. Und außerdem schließe man gleich. Das ist echt typisch Ami. Die Natur macht um fünf zu! Mein Bruder wurde mal beim Landeanflug auf Frankfurt von einer amerikanischen Touristin gefragt: „Is Black Forest open on Sundays?“, und besser lässt sich Amitum wohl nicht auf den Punkt bringen.

Die feuchtesten Augen hatte ich allerdings, als ein deutscher Rentnertourist beim Abendbuffet fassungs- und hilflos vor der leeren Teemaschine stand und in Richtung Hilfskellner empört ausrief: „The water is all!“
Der arme Kerl. Ihm wurde auch nicht sofort geholfen.
Und als wir ihn später mit einer geschlossenen Flasche Rotwein erneut in Richtung Personal gestikulieren sahen, war allen ziemlich klar, dass er wohl gerade „The bottle is too!“ gerufen hatte.
„Jerusalem“ (Daliah Lavi) ist ein Paradies für Menschen, die sich gerne religiöse Fanatiker jeglicher Couleur anschauen, und ein Faible für die Buchstabenkombination helomeifrrändheffelucketmeiloflihendigraft besitzen. In den engen Gassen der Jerusalemer Altstadt überkam mich Sartrescher Ekel ob der offensichtlichen Redundanz menschlicher Existenz. Also schnell in ein Taxi und auf den Ölberg geflüchtet. Der Taxifahrer klärte uns sogleich beflissen darüber auf, dass er uns im arabischen Teil der Stadt nicht aussteigen lassen könne, denn da kämen sofort böse Menschen, die einem die Kehle durchschneiden. Zufällig befand sich unser Hotel im arabischen Teil, und ich kann ihnen (Überraschung!) mitteilen: Stimmt gar nicht! „Hurra, wir leben noch“ (Milba), und die Wahrscheinlichkeit, im Viertel der orthodoxen Juden mit Steinen beschmissen oder zumindest angespuckt zu werden, ist bedeutend größer. Nun weiß man a) dass der olle Taxifahrer das natürlich hauptsächlich sagt, um einen Schnapp zu machen, und einen auch wieder zurückfahren zu dürfen, aber
b) erzählt er diesen Sims mit Sicherheit auch seinen Kindern. Und sodann beginnt man zu verstehen, wie sich gewisse unnötige Konflikte auf der Welt, sei es nun Nordirland oder der Nahe Osten oder sonstwo, auch über Generationsgrenzen hinaus fortpflanzen. Traurig das. A propos traurig: Selbst das als Party-Metropole gerühmte, und vor jungen, gutaussehenden Menschen strotzende, Tel Aviv zeigte sehr schnell sein Montagsgesicht, als nämlich ausgerechnet dort ein Selbstmordattentäter samt Bombe und einer Handvoll Diskothekenbesucher in die Luft und also in die ewigen Jagdgründe einging. Damit bescherte er dem labilen Friedensprozess einen der üblichen Rückschritte, und uns, die wir ca. fünfhundert Meter entfernt durchatmen durften (hurra, wir leben immer noch), zumindest eine schlaflose Nacht. That’s Israel, und wer noch nicht da war, braucht sich nicht zu beeilen. Schließlich gibt es ja auch noch alles andere und dann noch Finnland.


Um diese von vielen unschönen Kleinigkeiten handelnde Kolumne zu einem halbwegs versöhnlichen Ende zu bringen, möchte ich ihnen noch mitteilen, dass Herr Frank Schulz, über den ich hier neulich schon mal schrieb, unlängst mit dem Fichte-Preis für Literatur ausgezeichnet wurde. Herzlichen Glückwunsch. Das ist schon ein recht hoher Titel für einen deutschen Literaten. Ich habe immerhin schon mal im „Fichte-Kränzi“ eine Runde Schnaps aufs Haus bekommen. Es ist also einerseits immer noch „a long way to the top“ (AC/DC), aber andererseits bin ich scheinbar nicht ganz auf dem falschen Weg. Bleiben sie also dran. Denn wenn ich demnächst als Fichte-Preisträger, wie das dann ja so ist, dauernd auf der Titelseite der GALA erscheine, können sie allen erzählen: „Ja ja, aber früher war der viel besser“ und „live rockt der eh viel mehr“.
Vielleicht sollte ich noch an meinem Namen feilen. Ich glaube, als würdiger deutscher Intellektueller macht es sich gut irgendeine buchstaboide Merkwürdigkeit in seinem Namen vorweisen zu können. Professoren z.B. tragen gerne Doppelvokale mit anschließendem Zekka oder Doppelkonsonant im Nachnamen: Prof. Dr. Egon Draacke. Dr. rer. pol. Siemman.
Hilfreich ist auch ein nicht-mitgesprochenes Dehnungs-H: Harry Rowohlt, obgleich hier Rowohllt noch treffsicherer wäre. Oder man heißt gleich Freimut Duve oder Friedensreich Hundertwasser. Was für Vornamen! Wenn man als Freimut oder Friedensreich auf die Welt getauft wird, und dann trotzdem bloß Lebensversicherungsvertreter oder Filialleiter bei Tengelmann wird, hat man schon heftig was verwirkt in seinem Leben. Wenn es einer aber bei einem gewöhnlichen Frank Schulz belässt, und es trotzdem schafft: Respekt! (Fachwort aus der HipHop-Kultur)


Und P.S.:
Schon Heinz Schenk wusste: „Es ist alles nur geliehen“. Und zugegeben: Akklimati Klimaanlaginnen ist nur eine Coverversion eines alten Witzes, für den gleich zwei Menschen aus meinem Bekanntenkreis die Urheberrechte beanspruchen. Und hätte ich mich jetzt hier einfach so mit deren Federn geschmückt, dann wäre aber Polen offen gewesen. On Sundays.
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Beitrag von lenin »

Dass "das Amsterdam des Nordens" ein noch recht harmloser Slogan ist, habe ich leider erst heute erfahren, als mir ein Kunde aus Magdala (vgl.: Amygdala) schrieb, seine Wunschimmobilie in Apolda liege "landschaftlich schön in der sogenannten Toskana des Nordens".
Gut zu wissen!
Bissige Kommentare spare ich mir, aber das Diktum Peter Schillings ("Die Wüste lebt") scheint neuen Aufwind zu bekommen.
Bottrop, die Walachei des Westens!
Zeilsheim, die Nord-Süd-Stadt an der Ost-West-Tangente!
Kriftel, das Kröftel für Töfte!
Denken sie sich bitte selbst bessere aus.
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